Frei wie der Wind

Sowohl Sylvie als auch Max waren aus meinem Umfeld verschwunden, und ich entfernte mich sowieso zunehmend aus dem Studenten- und Universitätsleben. Neue Bekanntschaften kreuzten meinen Weg. Ich tauchte ab in die Welt der Unternehmer und Geschäftsleute. Fern der Wissenschaft ging es nun um Zielsetzungen, Strategien, Marketing, und vor allem ging es um Geld. Obwohl mich all das eigentlich nicht interessierte, geriet ich in den Sog, den diejenigen erzeugen, die hungrig nach Karriere streben.

Ich wurde zum Mitläufer, Trittbrettfahrer oder wie man das auch immer nennen mag. Jede Aufgabe wurde zur Herausforderung für mein Selbstwertgefühl, und jeder Mensch, der mich in dieser aalglatten Welt wahrnahm, bedeutete eine Bestätigung meines Selbst. Da war eine Ahnung von Unabhängigkeit … Heute hier, morgen dort … Reisen um den Globus im Perpetuum Mobile … Ich fühlte mich frei wie der Wind! – 

Heute ist einer der seltenen Tage, die ich in meiner Wohnung verbringe. (Ich habe tatsächlich einen festen Wohnsitz!) Ich lümmele lustlos, aber mit schlechtem Gewissen auf dem Sofa. Ich glotze sinnlos aus dem Fenster über die Dächer in die Landschaft: Rauch wirbelt weiß aus Schornsteinen, um sogleich waagerecht hinweggepustet zu werden.

Dann löst er sich abrupt auf. Die Straßenlaternen wanken beängstigend hin und her. Eine Flagge am Mast wird brutal gebeutelt. Erst jetzt nehme ich das Pfeifen und Klappern unter den Dachschindeln wahr. Ein Sturm tobt sich aus. Er treibt gnadenlos Wolkenfetzen über den schattierten Himmel. Das letzte Laub des vergangenen Herbstes wirbelt er wie buntes Konfetti durch die Luft … Frei wie der Wind!? – So fühlte ich. Aber bin ich auch stark und heftig wie ein Sturm? Kann ich wild sein? Kann ich tatsächlich frei sein? – Ich weiß es nun nicht mehr. Franziska Lachnit (2020)

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