Fünfte Jahreszeit

Das ist die schönste Zeit des Jahres! So empfanden wir als Kinder die Tage von Weiberfastnacht bis Aschermittwoch. Wie kleine Abenteuerferien fühlten sich die Karnevalstage an: Alle Kinder, die in unserem Hochhaus sowie unserer Straße wohnten – zwei Mädchen und ein Haufen Jungs – waren als Piraten verkleidet und enterten eine nachbarschaftliche Baustelle, um diese für sechs Tage zu unserem – Totenkopf beflaggten – Schiff zu machen. Der handbetriebene Betonmischer wurde zu unserem Steuerrad erkoren. Auf einer gemauerten Wand befand sich der Ausguck. Und das Kellerlabyrinth stellte das Unterdeck dar. Ein orangefarbenes Seidentuch spannte sich um meinen Kopf, die braunen Haare leckten keck hervor. An den Ohrläppchen blitzen kleine Kreolen. Ein weißes Satinhemd plusterte sich um meinen Oberkörper, und auf 7/8 geschnittene, zerfranste Hosen bekleideten meine Beine. Endlich konnte ich meinem inneren Trieb freien Lauf lassen und wurde zum Vollblut-Piraten. Wir segelten über stürmische Meere. Kämpften unerbittlich. Erbeuteten große Schätze. Viele Mutproben mussten wir überstehen. Und so vergingen die schönsten Tage des Jahres – viel zu schnell. Als wir älter wurden und diese Art Spiel für uns nicht mehr aktuell war, nutzen wir die Karnevalstage dennoch dafür, unseren Freiheitstrieb auszuleben: Ab Weiberfastnacht durften wir endlich anziehen, was WIR wollten! Das bedeutete für mich im Alter von vierzehn bis sechzehn, dass ich lange Röcke über langen Hosen, schlabberige Pullis von meinem Papa und Blumen in den langen Haaren trug. Endlich durfte ich Hippie sein! Das war die Zeit, in der wir uns zum ersten Mal in „Die Pinte“ wagen konnten – eine Studentenkneipe. An Karneval wurde nicht auf’s Alter geachtet, und wir erlebten ein neues Freiheitsgefühl. Auch diese Tage vergingen viel zu schnell. Et kütt halt wie et kütt, und et kütt – zum Glück- immer wieder! Franziska Lachnit (2018)

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