Spaziergang

Draußen verlockt nichts zu einem Spaziergang. Kälte beschlägt Fensterscheiben. Schornsteine blähen ihren Rauch in die Atmosphäre. Das Geäst der Bäume knistert unbehaglich im Frost. Nicht einmal die Macht der Sonne dringt durch die dichte Wolkendecke.

Es ist nebelig, feucht und ungemütlich. Aber drinnen fällt einem die Zimmerdecke auf den Kopf; die Luft ist trocken und riecht nach der letzten Mahlzeit. Ich muss raus! In Schichten umgebe ich mich mit einer Hülle aus Klamotten: Unterwäsche, Bluse, Strickjacke, Wollschal, Parka, Jeans, Socken und nochmal Socken, Stiefel und Handschuhe.

Mehr geht nicht, und mehr würde auch nicht helfen! Mein Atem legt sich als feuchte Nebelschwade über mein Gesicht und bleibt nass im Schal hängen. Jeder Schritt bedeutet eine Überwindung.

Ich lasse die griesgrämige Stadt hinter mir und erreiche das Rheinufer. Plötzlich ist alles anders: Die Landschaft – in verhaltene Pastellfarben getaucht – zieht mich heraus aus meinem Unbehagen, heraus aus der Kälte und hinein in ein Bild wie von Caspar David Friedrich gemalt: Brückenpfeiler standhaft im kalten Wasser, das spiegelglatt daliegt und den Aalschokker nur gemächlich hin- und herschaukelt.

Wie in Watte gepackt, liegen die Hügel ringsum. Am Flussufer hocken Enten, wärmend aufgeplustert und stoisch auf eine andere Jahreszeit wartend. Am Horizont steigt schwarz immer wieder ein Schwarm Stare auf. Es beginnt zu dämmern, und die Vögel suchen nach einem Schlafplatz. Kurz bevor die Sonne diesen Tag ganz im Stich lässt, lugt sie einmal zaghaft durch die tiefliegenden Wolken hindurch.

Als wäre ihr Licht ein farbgetränkter Pinsel, so leuchtet der Himmel zum ersten Mal an diesem Tag auf. Und ich denke: Vergib nicht, wenn der Tag vergeht, ohne dass die Sonne ihn erleuchtet! Heute kann ich vergeben. Franziska Lachnit (2016)

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