Stiller Monolog eines Verlassenen

Ich gehe durch mein kleines Dorf und begegne vielen freundlichen Menschen, die sich immer gerne mit mir unterhalten. Warum spricht aber meine jüngste Tochter nicht mehr mit mir? Was habe ich falsch gemacht? – Der viel zu frühe Tod ihrer Mutter, meiner Frau schmerzte mich ebenso wie sie. Beide Töchter hatten schwere Zeiten. Ich auch! Dennoch habe ich alles gegeben, was ich als plötzlich alleinerziehender Vater geben konnte: Ich wechselte die Arbeitsstelle, um Zeit für die Kinder zu haben. Die großzügige Wohnung musste gegen ein kleines Appartement eingetauscht werden.

Und damit jedes Mädchen sein eigenes Zimmer haben konnte, schlief ich in der Küche. Ich selbst bin seitdem geschrumpft, reduzierte mich auf den Überlebenstrieb. Letztendlich habe ich das Wichtigste geschafft: Die Kinder wurden selbständig und erwachsen. Sie konnten einen Weg einschlagen, auf dem es ihnen weder an Essen noch an einem Schlafplatz mangelt. Ich bin nun alt. Reduziere mich weiterhin auf den Überlebenstrieb und halte durch. Wofür ich immer noch stark bin, weiß ich nicht. Meine jüngste Tochter hat mich verlassen.

Ohne dass ich bisher herausfinden konnte, warum sie das tat. Die Ältere ist eine gelegentliche und von ihr bestimmte Episode in meinem Leben. Beide Töchter, jede auf ihre Weise, haben mich verlassen. Das schwächt mich. Ich könnte stärker sein – oder einfach glücklich, wären sie an meiner Seite! – Meine Freunde sagen, ich sei stark! Und ich sähe gesund aus! Immerhin! Es könnte also schlimmer sein als alter, einsamer Mann! Meine Freunde sind mein Halt. Mit ihnen kann ich reden – wenn wir uns zufällig auf der Dorfstraße treffen oder zum Bier in der Dorfkneipe verabreden. Mit ihnen kann ich manchmal das Vertrauen finden, das ich mit meinen Töchtern verloren habe. In solchen Momenten kann ich sogar glücklich sein. Franziska Lachnit (2018)

Karrierefrau

Katrin wusste schon immer, wo’s lang geht. Als Älteste von sechs Kindern hatte sie schnell Verantwortung übernommen. Und Organisation. Die Mutter – früh geschieden, lebte ihr eigenes Leben. Katrin kümmerte sich um die Familie, das Frühstück und Mittagessen, die Hausaufgaben und irgendwelche Termine.

Sie war Managerin durch und durch – von jungen Jahren an. Sie war auch eine extrem gute Schülerin. Im Studium emanzipierte sie sich in einem Männermetier und verfolgte auf diesen Spuren ihren weiteren Lebensweg. Als erfolgreiche Unternehmerin trat sie ihren Kriegszug gegen die Männerwelt und die vermeintlich frauenfeindliche Gesellschaft an. Dabei war es nicht so, dass sie Männer hasste.

Nein, sie liebte sie! Aber die Männer liebten sie nicht. Zumindest nicht dauerhaft. Vielleicht lag das daran, dass Katrin stets den Fahrplan für das gemeinsame Leben in der Tasche hatte: „Keine Haustiere!“ – „Der Vorgarten  muss hergerichtet werden! – „Wir brauchen ein Kaminzimmer und einen Weinkeller!“ Möglicherweise hatten die Männer aber anderes erwartet. Sie wollten vielleicht nur Ruhe, ein gemütliches Heim und eine anschmiegsame Frau. Nicht mit Katrin! Sie war getrieben.

Auch wenn sie selbstverständlich gerne anschmiegsam war, so konnte sie sich mit nichts, was nur annähernd einem Stillstand glich, zufrieden geben. „Lass uns den Dachboden ausbauen!“ – „Wir sollten mal wieder eine Radtour unternehmen!“ – „Für heute Abend habe ich Theaterkarten besorgt!“ – „Morgen kommen Helen und Carsten zum Abendessen!“ – Das alles wäre für einen Mann nicht so dramatisch gewesen.

Das könnte er charmant abwimmeln. Aber Ehrgeiz und Tatendrang  trieben Katrin beinahe in ihren finanziellen und körperlichen Ruin. Das mochte sich niemand aus der Nähe anschauen. Kein Mann und kein Freund. Und so blieb sie immer wieder allein. Franziska Lachnit (2017)

Der dicke Hase

Eine kleine Geschichte aus dem Schulalltag: Jede Woche an einem Nachmittag begebe ich mich mit ein paar Grundschulkindern auf Entdeckungsreise. Wir erleben auf den Spuren großer Entdecker – Marco Polo, Christoph Kolumbus, James Cook und vieler anderer – die Erforschung unserer Erde. Mit Marco Polo, seinem Vater und Onkel unternahmen wir also eine Entdeckungsreise nach China. Wir lernten, mit Stäbchen zu essen und erfuhren vom Geheimnis der Glückskekse und der Chinesischen Tierkreiszeichen.

„In welchem Jahr bist Du geboren?“ – lautete die entscheidende Frage. Drei Kinder waren im Jahr des Hasen geboren, ein Kind im Jahr der Ratte und eines im Jahr des Schweins – ich im Jahr der Ziege. Gelächter, Kommentare, Begeisterung, aber auch Ablehnung sprudelten. Dann malten die Kinder ihr Tierkreiszeichen in ihr Reisetagebuch: Konzentriert und mit viel Sorgfalt wurde gezeichnet. Bunte Meisterwerke wurden erschaffen: Eine tolle Ratte, ein niedliches Schwein und Hasen in erstaunlicher Vielfalt.

Eines der Hasen-Bilder machte uns alle sehr neugierig:  Da war ein Wesen zu sehen, welches durchaus ein Häschen hätte sein können. Dahinter stand eine Hütte oder ähnliches. „Was ist das denn?“ – wollte ich wissen. „Das Hexenhaus.“ –  antwortete der Künstler gelassen und als wäre es selbstverständlich. „Aber was macht denn der Hase vor dem Hexenhaus?“ – „Das ist kein Hase!“ bekam ich zu hören, als müsste ich es wirklich besser wissen.

„Das ist die Hexe! Den Hasen male ich noch.“ Daraufhin entstand tatsächlich ein dicker, Garfield-ähnlicher Hase. Nun wollten wir aber hören, welche Rolle die Hexe spielt. „Die Hexe hatte den Hasen gefangen und versuchte, ihn in ihr Hexenhaus zu bringen. Sie konnte ihn aber nicht tragen, weil er ja so dick ist.“ – Tja, Pech für die Hexe und wahres Glück für den dicken Hasen! Franziska Lachnit (2018)

Jugend

Vorsichtig drückt sie auf den Klingelknopf. Ihr ist mulmig zumute: „Hoffentlich ist er da! Hoffentlich macht nicht seine Mutter auf!“ Die Haustür des Mehrfamilienhauses öffnet sich abrupt und mit einem kräftigen Surren. Sie betritt das Treppenhaus und steigt Stufe für Stufe in die dritte Etage. An der Wohnungstür wartet er.

Empfängt sie liebevoll mit einer Umarmung. Erleichtert schmiegt sie sich für einen kurzen Moment in diese Behaglichkeit. Dann überfällt sie wieder die Unsicherheit in dieser noch ungewohnten Umgebung. Aber es taucht auch dieses Gefühl der Erregung auf, das sie jetzt manchmal überkommt – völlig unerwartet und unkontrolliert, also überraschend und erschreckend. Bisher hatten sie sich nur bei ihr zu Hause getroffen oder die verschwiegene Kerzenlichtatmosphäre des Jugendtreffs für ihre Zweisamkeit genutzt. Zum ersten Mal ist sie bei ihm.

Er nimmt sie mit in sein Zimmer. Es ist erst seit kurzem sein eigenes Zimmer. Noch vor ein paar Wochen musste er es mit seiner jüngeren Schwester teilen. Die Schwester ist inzwischen in das ehemalige Elternschlafzimmer umgezogen, während die Eltern im Wohnraum ein großes Schlafsofa aufgestellt haben. Sein Zimmer ist gemütlich: grüne Wände, Pflanzen am Fenster und eine handgewebte Tagesdecke auf dem Bett.

Nun  liegen beide vertrauensvoll auf der gewebten Decke. Sie reden ausführlich – von Träumen, Ängsten und anderen Geheimnissen. Sie umschlingen sich fest. Und tauschen keusche Küsse aus. Beide ersehnen mehr körperliche Intimität – trauen sich aber nicht. Für einen Augenblick schlafen sie Arm in Arm ein … Behaglich dann das Aufwachen. Zum ersten Mal erlebt sie ein ungefähres Gefühl von Frau und Mann. Sie muss gehen. Unbemerkt von den Eltern. Ebenso unbemerkt sollte sie auch nach Hause kommen. In dieser unschuldigen Nacht. Franziska Lachnit (2017)

Puppenstubentraum

Die kleine Anni war eine Puppenmami aus ganzem Herzen. Zu Hause hatte sie eine große Puppenstube: tapeziert  mit Röschentapete und möbliert mit pastell-gelben Plastik-Puppenmöbeln. Bei ihrer Großmutter gab es sogar zwei Stuben zum Spielen. Sie waren kleiner, aber dafür mit richtig antiken Möbelchen und winzigem Porzellangeschirr und kleinen Kupfertöpfen. Miniatur-Spitzendeckchen zierten Tisch und Anrichte aus echtem Holz!

Die mit liebevollen Malereien versehenen Bettchen waren von handgenähter Wäsche bedeckt. Das war eine altertümliche und wunderbare Welt für Anni. Sie lebte darin wie in einem Märchen, wenn sie damit spielte. Das geschah leider recht selten, weil man die Großeltern nicht so häufig besuchte – höchstens einmal im Monat. Mutter nahm dann zusammen mit Anni und dem kleinen Bruder den Zug. Abends holte Vater sie mit dem Auto wieder ab. Anni wünschte sich sehr, dass aus ihrer eigenen, spartanisch eingerichteten Puppenstube etwas Bedeutendes würde.

Als Vater einige Wochen vor Weihnachten mehr Zeit als üblich in seinem Werkkeller verbrachte, merkte Anni nicht, dass gleichzeitig ihre Puppenstube verschwunden war. St. Martin, Nikolaus, Schlittenfahren – so viel Ablenkung. Dann kam Heilig Abend! Der Nachmittag zog sich für Anni und ihren Bruder zähflüssig in die Länge. Endlich, als die Dunkelheit hereinbrach, wurde der Baum geschmückt.

Dann schickten die Eltern die Kinder aus dem Zimmer. Schließlich erklang Mutters Klavierspiel: „Ihr Kinderlein kommet …“ sang sie. Die Kinder stimmten nur halbherzig ein, denn ihr Blick fiel gespannt und aufgeregt auf die Geschenke. Alle waren feierlich verpackt bis auf eines: Anni traute ihren Augen nicht: Die einfache Rosentapeten-Puppenstube hatte sich in ein buntes, gemütlich möbliertes Haus mit vielen Zimmern, einer Treppe und einem Dach verwandelt. Annis Traumhaus! Franziska Lachnit (2017)

Die „Nach-Kaiser’s-Ära“

Wie lange ist es nun her, dass uns der Kaiser verlassen hat? – Schon eine ganze Weile! – Und bisher ist noch immer kein Thronfolger in Sicht. – Eigentlich nicht. – Oder doch? – Begibt man sich auf die Spuren von Tausend und einer Nacht – jenseits von Ladenleerständen und Billig-Discountern, so entdeckt man auch bei uns ein Tor, vor dem man die Worte „Sesam öffne dich“ nur denken muss – und eine kostbare Welt tut sich auf: Purpurne Granatäpfel glänzen wie faustdicke Rubine.

Kleine Broccoli-Sträuße zeigen sich schüchtern in jugendlicher Frische. Champignons, kräftig und erdig duften nach Wald und Boden. Erdbeeren, Himbeeren, Brombeeren so süß wie aus Großmutters Garten. Das fühlt sich ein bisschen nach Paradies an. Und wie im Paradies fühlte ich mich vor ein paar Tagen, als ich meinen heiß-geliebten, allerdings vom Rest der Familie gehassten Rosenkohl erstand und abends für mich alleine zubereitete. Denn erstaunt stellte ich fest: Kein langwieriges Putzen und Aussortieren der Röschen war nötig – alles war wie von Zauberhand schon vorbereitet.

Mit minimalem Aufwand brachte ich ein köstliches Mahl vom Topf und Ofen in meinen Mund. Märchenhaft! – Allerdings stellte ich mir die Frage: Wer hat den Rosenkohl so fein hergerichtet? – Ich dachte, es wäre vielleicht die Mutter im stillen Kämmerlein, die dort schält und aussortiert. Doch dann erzählte meine Freundin, wie sie – nachdem sie glücklicherweise ebenfalls das Tor zu den bisher verborgenen Schätzen geöffnet hatte – den Prinzen höchstpersönlich! beim Putzen und Knibbeln des Rosenkohls ertappte. – Kein Zauber also! Nur Handarbeit. Liebe- und wertvoll! Wenn ich also heute an die Zeiten der kaiserlichen Herrschaft zurück denke, so muss ich sagen, dass ich sie gar nicht mehr vermisse. Franziska Lachnit (2017)

Geschenke

Wir starten durch! Und zwar geradewegs auf Weihnachten zu. Das Fest des Schreckens – Pardon! des SCHENKENS. Während wir aber eine besinnliche Zeit erwarten, so erwartet uns eher ein Konsumrausch – von Nerv tötendem Klingeling sowie tanzenden, musizierenden und fassadenkletternden Weihnachtsmännern begleitet.

Vor einigen Jahren beschloss ich, mich von dieser Zwangs-Party auszuladen: Keine Weihnachtsgeschenke! – nicht von mir und bitte auch nicht für mich! Ein bisschen Besinnung war allerdings erlaubt, und so bastelte ich mir ein Weihnachten nach meinem Geschmack: Ich entdeckte irgendwo die Idee eines Adventskalenders, den man nicht leert, sondern täglich befüllt – mit nützlichen Dingen! und schließlich spendet – z.B. an Die Tafel.

Ich kaufte nichts für meine Kinder, die sowieso alles haben, was sie brauchen, sondern besorgte ein paar Baby-Sachen für ein Neugeborenes, das sein erstes Weihnachten im Flüchtlingsheim verbrachte. Und ich packte das Geld, das ich sonst für die Geschenke an meine Kinder ausgegeben hätte, auf unser gemeinsames Urlaubskonto, um unsere Traumreise in Erfüllung gehen zu lassen. Wie werde ich in diesem Jahr dem Rundherum-Schenken entgegentreten? Ignorieren ist immer eine Möglichkeit.

Aber was bewirke ich damit bei den Menschen, die an Weihnachten mitsamt seiner glitzernden Gaben glauben? Menschen, die ich mag und denen ich gerne eine Freude mache! – Ich denke im Stillen: „Schenken kann ich jederzeit. Ich muss mich keinem Datum unterordnen, welches für mich keine Bedeutung hat.“ Vielleicht wäre es aber ein umso größeres Geschenk, wenn ich meinen Glauben bzw. Andersglauben mal für diesen Augenblick zur Seite lege … den Menschen entgegenkomme, die ich mag … ihre Erwartungen erfülle und ihnen ein Geschenk mache. Ein Geschenk zu Weihnachten! So wie sie es sich wünschen. Franziska Lachnit (2017)

Weihnachtsbäume

Die meisten Menschen haben ihren eigenen und über Jahrzehnte gewachsenen Weihnachtsbaumkult. Ich habe meinen im Laufe der Jahre stetig verändert und will mich noch immer nicht festlegen. 

Interessant, als ich im letzten Jahr auf der Flucht vor allem Kult am Flughafen stand und zwei junge Männer beobachtete, die einen Weihnachtsbaum im Reisegepäck hatten. So viel Mühe, unsere Tradition in die Welt hinaus zu tragen! – Traurig jedoch, dass uns zu Hause seit ein paar Jahren ein Pseudo-Weihnachtsbaum verzweifeln lässt. Freundlich gespendet, aber hässlich, strapaziert er jedes Jahr die vorweihnachtliche Stimmung.

„Quadratisch, praktisch, gut“ – fällt dem Betrachter dazu ein. Und obwohl auseichend hoch über den Köpfen verharrend, ist er noch nicht einmal geeignet, um bei weihnachtlichem Nieselregen Schutz zu bieten. Wehmütig spazieren wir an diesem Konstrukt aus Laterne und Plastik vorbei und erträumen uns eine jungfräuliche Schneedecke, die über dem Marktplatz liegt. St. Johann Baptist leuchtet warm durch die blattlosen Bäume.

Dieses besondere Licht kuschelt uns ein, und die winterliche Kälte kratzt im Gesicht. Jeder Atemzug beißt durch die Lunge bis ins Herz. So fühlt sich Winter, so fühlt sich Weihnachten an! – Seltsam, als ich mitten im August genau daran denken musste. Wir hatten einen beschaulichen Platz an einem See weit, weit weg von Zuhause und lümmelten uns bei Sonnenschein in den Campingstühlen.

Neben uns ragte eine wohlgeformte, dichte Tanne empor. „Das wäre der richtige Weihnachtsbaum für unser Städtchen!“ – „Diesen Baum möchte ich spenden.“ – Hier ist er. (Foto oben)

Franziska Lachnit (2017)

Wahn oder Wirklichkeit?

Auf dem Heimweg. Die Füße sind bleischwer und lassen sich kaum heben. Jeder Schritt ist ein Kraftakt unglaublichen Ausmaßes. Ich spüre, dass ich so nicht weiterkomme und sinke auf die Knie, um nach Hause zu kriechen. Schließlich erreiche ich das Haus auf dem Boden liegend, mit den Armen ziehe ich mich mühsam voran.

Als ich das Treppenhaus betrete, empfängt mich eine grelle, weiße Leere. Wo sind die Gegenstände und Bilder, die hierher gehören? Woher kommt diese blendende Helligkeit? – Ein grüner Engel von der Größe eines Menschen ziert meine Wohnungstür. Er ist hässlich. Laut schluchzend lehne ich mich an die Tür und schreie, dass ich das Stoffherz und die Holzfiguren wieder haben will, die zuvor dort hingen.

Als ich meine Wohnung betrete, wird es noch schlimmer: Sämtliche Schlüssel wurden vom Schlüsselbrett entfernt. Kein Möbelstück steht mehr an seinem ursprünglichen Platz. Manche Möbel fehlen, andere sind hinzugekommen. Das anfängliche Entsetzen weicht nun einem gefräßigen Schmerz, der sich durch meinen Körper nagt. Ich fühle mich meiner Identität beraubt. Wer bin ich? Und vor allem: Wer hat hier Hand angelegt? Ich irre durch meine eigene Wohnung, als wäre ich in eine fremde Welt katapultiert worden. Unsicherheit, Angst und Verzweiflung sind an die Stelle von Geborgenheit, Ruhe und Zuversicht getreten.

Hier ist nicht mein Zuhause. Ich gehe. Ich fliehe. Kein Blei mehr in den Füßen! Ohne Anstrengung verlasse ich das Haus und schwebe beinahe die Straße hinunter. Hinein in einen sanften, wohltuenden Nebel. Er wickelt mich ein. Schützt und wärmt. Jetzt blendet kein grelles Leuchten. Kein grüner Engel versperrt mir den Weg. Und alle Gegenstände haben an Bedeutung und Kraft verloren. So muss sich Freiheit anfühlen! Franziska Lachnit (2017)

Laterne,Laterne…

Ich Weichei, Warmduscher oder wie man sonst noch die Bequemen betiteln mag: Ich stehe am Fenster, wärme behaglich meine Beine am Heizkörper und schaue von meinem heimeligen Logenplatz aus dem St. Martinszug zu. Leuchtende Fische, Eisbären, Herbstblätter, Gänse wackeln durch die regennasse Straße.

Ich erkenne das ein oder andere Kind – alle sind in aufgeregtem Gespräch mit einem Kameraden. Alle halten stolz ihre selbstgebastelten Laternen in die Höhe. Ein paar singen sogar die Lieder mit, die vom Spielmannszug kräftig angestimmt werden. St. Martin schreitet allen voran – und in diesem Jahr zum Glück wieder mit PS unterm Popo und  nicht, wie letztes Jahr, per Pedes! – sondern so wie es sich gehört!

Diese Szene weckt tiefliegende Erinnerungen aus meiner Kindheit und Jugend: Der St. Martinszug in unserem Ort, fand selbstverständlich immer am eigentlichen St. Martinstag statt. Ein Höhepunkt unseres St. Martinzuges war ein großes Feuer, das am Ende entfacht wurde. St. Martin saß stolz und erhaben auf seinem weißen Ross – leuchtende Laternen ringsum, und rotgoldene Feuerfunken flogen zum Himmel.

Aber erst nach Zug und Feuer wurde es für uns Kinder und Jugendliche richtig spannend: Wir gingen zum Betteln. In Grüppchen, Paaren oder gelegentlich auch alleine zogen wir in unserer Wohngegend von Haus zu Haus und sangen „Hier wohnt ein reicher Mann … „ oder „Laterne, Laterne, Sonne und Mond und Sterne …“ – meistens laut, manchmal wohlklingend. Alle Betteleinnahmen, die in unseren Tüten landeten – ob Süßes, kleine Geschenke oder Geld – durften wir behalten.

Dementsprechend entwickelten wir großen Ehrgeiz und zogen, je älter wir wurden, immer größere Bettelrunden, um die Ausbeute zu erhöhen. Und wir genossen es, mitten in der Woche, so lange abends durch die Straßen zu streunen. St. Martin sei Dank! Franziska Lachnit (2017)