It’s a kind of magic

„Die, die nicht an Magie glauben, werden sie nicht finden.“ – Roald Dahl. Das stand auf einem Bild im Café. Außerdem war ein kleiner Vogel darauf abgebildet. Ich las die Worte – in diesem Augenblick plusterte sich der kleine Vogel auf, verharrte kurz und hob sich dann von seinem Ast und flatterte aus dem Bild – durch das Café und durch die geöffnete Tür. Hinaus in den Frühlingstag. Er schwang sich zur Kirchturmspitze empor und sah zum ersten Mal die Welt.

Ungläubig nippe ich an meinem Tee. Auf dem Tisch steht eine Vase mit einer kleinen Rose darin. Während ich nochmals an die Worte über die Magie denke, schlängeln sich auf einmal feine Wurzeln aus dem Stiel der Rose. Zuerst zaghaft, dann beinahe gierig füllen sie die Vase. Kriechen aus ihr heraus, über die Tischplatte hinweg. Immer kräftiger werden sie und bahnen sich ihren Weg nach draußen in den Garten. Dort graben sie sich in den Boden.

Irritiert schaue ich um mich. Am Nachbartisch sitzt eine Damengruppe, heftig ins Gespräch vertieft. Meistens reden zwei oder drei von ihnen gleichzeitig. Offenbar haben sie nicht bemerkt, wie sich der Vogel aus dem Bild befreite oder wie die Rose Wurzeln schlug. Auch das Rentnerpaar, das gerade die Tagessuppe löffelt, scheint von den rätselhaften Wundern unberührt. Ich werfe einen Blick in meine Tasse und schnuppere: Eindeutig Tee! – An einem weiteren Tisch haben sich zwei junge Mütter auf einen Kaffee getroffen. Von ihren Kinderwagen umzingelt, tauschen sie Erfahrungen aus. Auch sie sind unberührt von den sonderbaren Ereignissen. Doch der kleine Junge, der bis eben quirlig auf dem Stuhl herumrutschte, macht plötzlich große Augen. Abwechselnd schaut er auf das Bild, dem der Vogel entflatterte, und auf die Rose, die ihre Wurzeln in den Garten schickte. Und dann – verwundert, verbrüdert und mit einer Ahnung von Magie – treffen sich unsere Blicke. Franziska Lachnit (2017)

Der Wohnwagen

Mein Großvater kaufte damals einen Wohnwagen. Nicht, um damit auf Reisen zu gehen, sondern als Gästezimmer für meine älteren Cousins und als Gartenlaube für den Sommer. Der – nicht mehr verkehrstaugliche und stark abgetakelte – Wohnwagen wurde eines Tages angeliefert, im Garten abgestellt und in den folgenden Jahren intensiv genutzt.

Aufgehübscht mit neuen Gardinen und Polstern sowie technisch aufgerüstet mit einem kleinen Fernseher und einem elektrischen Heizkörper war der Wohnwagen Lebensmittelpunkt unserer Familie. Im Sommer verbrachten wir dort unsere Ferien. Fenster geöffnet, Fernseher nach draußen gedreht und beschattet von einem Vordach erlebten wir im Garten Formel-1 und Wimbledon live.

Im Winter heizte mein Vater vor dem Wohnwagen – geborgen von Dach und Windschutz – mit seinem Kamin ein, den er aus zwei Zinkwannen gebaut hatte. Silvester, Karneval und zahlreiche Geburtstage haben wir mehr oder weniger trunken dort gefeiert. Das war natürlich später, als wir Kinder keine Kinder mehr waren. Immer wieder gespannt erlebten wir die Übernachtungen im Wohnwagen. Zuerst mit meiner Cousine – mutig, weil wir Sabotage von ihren Brüdern befürchteten.

Später mit meinen Freundinnen. Unbehelligt von Eltern führten wir Gespräche bis in die späte Nacht hinein. So offenbarte mir eine Freundin ihre Version des Geheimnisses um die Heilige Jungfrau Maria. Wenn wir mal „mussten“, wurde das unter dem Taubenschlag hinter den Fichten erledigt – möglichst ausgestattet mit Gummistiefeln, weil’s so spritzt, wenn man auf die nackte Erde pinkelt. Im Sommer roch das Innere des Wohnwagens muffig nach dem Staub des Winters. Im Winter dünsteten die Polster und Gardinen die schweißige Feuchtigkeit des Sommers aus. Der Wohnwagen war Heimat, bedeutete Familie und auch Abenteuer. Franziska Lachnit (2017)

Abenteuer

Havanna, Kuba: Knallblauer Himmel, weit über 30°C. Wir begeben uns auf die Fahrt vom Zentrum Havannas zum Flughafen. „Der Flughafen wird ja ausgeschildert sein“, denken wir. Ist er auch – in der Innenstadt, außerhalb nicht mehr.

Wir haben einen großen Stadtplan, in dem auch die Außenbezirke verzeichnet sind. Leider nützt keine Karte, wenn auf der Straße selbst keinerlei Namen oder Richtungen ausgewiesen werden. Irgendwann haben wir uns hoffnungslos verfahren und sind bereits aus dem Bereich unseres Stadtplans herausgeraten. Wir sind völlig orientierungslos.

Auf dem Land, wo es nur wenige Straßen gibt, konnten wir uns nach dem Stand der Sonne richten oder erkannten Hauptstraßen daran, dass dort gehäuft Anhalter standen. Diese Strategien helfen jetzt gar nicht. Zwar hatten wir ein dickes Zeitpolster für die Fahrt eingeplant, aber das schrumpft gerade bedenklich. Wir halten an einer Tankstelle, um nach dem Weg zu fragen. Dort treffe ich drei Leute – keiner spricht Englisch. Mein Spanisch reicht gerade für die Frage „Aeropuerto?“

Die hilfsbereiten Kubaner malen eine Skizze des Weges. Zurück im Auto versuche ich zu lotsen: Wir fahren in die angegebene Richtung. Nach einer Brücke soll die Autobahnauffahrt kommen. Nein, das sieht nach einem Feldweg aus! Wir fahren also daran vorbei. Verdammt, es war doch die Auffahrt! Irgendwann und irgendwie finden wir doch noch auf die Autobahn, müssen aber feststellen, dass wir in falscher Richtung unterwegs sind.

In unserer Not unternehmen wir kurzerhand einen U-Turn über den Grünstreifen und gelangen so auf die andere Fahrbahn. Endlich befinden wir uns auf dem richtigen Weg – Erleichterung schwappt über uns. Nach ein paar Kilometern erreichen wir den Flughafen, geben den Mietwagen ab und checken planmäßig ein: Hasta luego – bis bald, Kuba! Franziska Lachnit (2017)

Einsiedler

„Ich hasse Menschen“ denkt er. Das denkt er fast immer. Und er lebt zurückgezogen in einer Welt, in der nur weniges für ihn von Bedeutung ist – am allerwenigsten bedeuten ihm die Menschen etwas. Wenn er ihre aufdringliche Nähe spürt, schränkt das seine Freiheit ein. Dann beobachtet er, wie er den Rückzug antritt. Wie eine verängstigte Schnecke zieht er sich in sein inneres Haus zurück. Wenn er aber gelegentlich aus seiner Isolation herauskriecht, spürt er auf einmal: „Menschen können auch gut tun!“

Mit zunächst schützend hochgezogenen Schultern und gesenktem Blick geht er durch die Stadt, um dort die lästigen, aber notwendigen Besorgungen für den täglichen Bedarf zu erledigen. Missmutig betritt er den ersten Laden. Freundlich wird er begrüßt. Und schon keimt ein kleines, warmes Lächeln in ihm auf. Für den Anfang war das wirklich gut! Als er aus dem Laden heraus tritt, wird er beinahe von einem Mann im Rollstuhl überfahren.

Er bleibt erschrocken stehen. Der Rollstuhlfahrer ebenfalls – und lacht ihn an: „Rechts vor Links!“ – „Oh, Danke!“ Das warme Lächeln wächst in seinem Inneren.  Auf seinem weiteren Weg kommt ihm eine Mutter mit Kinderwagen und einem kleinen Mädchen entgegen. Das Mädchen, auf einem bunten Dreirad strampelnd, schaut mit großen und alles erfassenden Augen zu ihm auf: „Hallo!“ ruft sie ihm fröhlich entgegen.

„Hallo, kleines Mädchen“ murmelt er zurück. In seinem Inneren erhitzt sich das Lächeln – ist dabei, zu einem herzlichen Lachen heranzuwachsen. Und ab diesem Moment bewegen sich seine Mundwinkel zaghaft nach oben; sein Blick öffnet sich und traut sich in die Gesichter derer, die ihm auf seinem weiteren Weg begegnen. Beschwingt kehrt er schließlich in seine Einsiedelei zurück. Einerseits überrascht von der Menschenliebe, andererseits froh, wieder allein zu sein. Franziska Lachnit (2017)

Samstagabend

In meiner Kindheit war der Samstagabend das Highlight der Woche: Im Haus meiner Großeltern tummelte sich unsere Familie im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Pünktlich zur Zusammenfassung der Bundesliga tauchte mein Vater aus dem Werkkeller auf. Sein Pulli roch nach Holzspänen und Leim.

Er machte es sich auf dem Polsterhocker gemütlich, der auf der einen Seite des Kachelofens stand. Ums Eck sicherte ich mir stets auf dem Sofa einen warmen Platz am Ofen und in der Nähe meines Vaters. Eine Flasche Pils hatte er sich aus dem Keller mitgebracht. Dass ich neben meinem Vater saß, hatte für mich den Vorteil, relativ unbeachtet ab und zu am Bier nippen zu können.

Meine Füße stemmte ich gegen die wärmenden Kacheln, freute mich auf das „Tor des Tages“ und darüber, dass wir beieinander saßen: Papa, Mama, mein jüngerer Bruder, Oma und Opa. Irgendwann tischte meine Oma dann Holzbrettchen, Besteck, Brot und Wurst auf. Sie mischte für sich halb und halb Malzbier mit Pils.

Und ein Gläschen Korn durfte nicht fehlen. Im Verlauf des Abends wurde das Fernsehprogramm immer spannender: Nach dem Sport besuchten wir „Das Haus am Eaton Place“: Was passiert heute bei den Bellamys und ihren Dienstboten? – allen voran Butler M. Hudson, Zimmermädchen Rose und Köchin Mrs. Bridges.

Das war unsere absolute Familien-Lieblingsserie am Samstag! Und ein Abend, an dem Rudi Carrell „Das laufende Band“ in Bewegung setzte, war perfekt: Wenn der Siegerkandidat die Gegenstände aufzählte, die er auf dem Band gesehen hat, beteiligte sich meine Familie so eifrig, als könnten wir tatsächlich etwas gewinnen.

Gut gelaunt nach diesem geselligen Zusammensein, verabschiedeten wir uns von Oma und Opa. Freuten uns dann schon auf Sonntag, wenn wir wieder bei ihnen gemütlich am Kachelofen sitzen und mit dem „Raumschiff Enterprise“ in unendliche Galaxien aufbrechen würden. Franziska Lachnit (2017)

Maibaum

Da war einmal ein Maibaum. Er hatte einen mächtigen Stamm, glatt geschält prahlte er mit seinem hölzernen Fleisch. Hoch oben war er geschmückt mit einem dichten Kranz aus Tannenzweigen, verziert mit Bändern. Bunt hoben sie sich vom blauen Mai-Himmel ab und tanzten fröhlich im Wind. Zuverlässig herrschte er jedes Jahr für einen Monat über den Marktplatz. Jeder, der vorbei kam, hob seinen Blick, um zu sehen, wie weit der große Maibaum in den Himmel ragte.

Und jeder freute sich über die Kraft und Freude, die er ausstrahlte. Niemals hätte jemand damit gerechnet, dass dieser stolze Maibaum eines Jahres nicht mehr errichtet werden könnte! Nie! – Bis zu diesem Jahr. Wer den Blick heute hebt, schaut in eine leere Weite des Himmels. Verdutzt und ein bisschen erschrocken senkt man den Blick wieder. Und wer dann genau hinsieht, entdeckt IHN – den „Maibaum des Erbarmens“.

Er hat sich in einem Anflug von ein bisschen Ehrgeiz und viel Mitleid dazu hinreißen lassen, den Alten zu vertreten oder sogar zu ersetzen. In seinem jugendlichen Eifer hat er sich aufstellen und nett schmücken lassen. Noch ist er zu jung, um behobelt und mit schweren Kränzen behängt zu werden. Kaum größer als der Pfahl des Straßenschildes, an dem er befestigt wurde, ragt er noch lange nicht in den Himmel, welcher in diesem Jahr auch nur mitleidig und grau dreinschaut.

Aufmunternd tröpfeln die Regentropfen auf den jungen Baum. Doch da dieser entwurzelt wurde, kann kein Wasser, kein zukünftiger Sonnenschein ihn zu dem großen und würdigen Maibaum machen, der er gerne sein möchte. Allein sein Erbarmen mit den Menschen, die sonst ohne Maibaum geblieben wären, verleiht ihm Größe und seine ganz besondere Würde. Franziska Lachnit (2017)

Rumpelstielzchen

Als alleinerziehende und berufstätige Mutter hatte sie sich während der Schulzeit ihrer Kinder kaum in schulische Aktivitäten eingebracht. Zwar hatte sie hin und wieder einen Kuchen für eine Schulfeier gebacken, aber niemals die Lesemutti oder den Bastelhelfer gemacht.

Einmal jedoch ließ sie sich hinreißen: In der Grundschule wurde eine Projektwoche mit dem Thema Märchen angekündigt. Ohne Frage ein Projekt, das man auf außergewöhnliche Weise und multikulturell behandeln konnte. Sofort wusste sie, wie sie die Kinder aber auf einfache Weise begeistern würde: Warum das Thema nicht mal von der humorvollen Seite angehen? Ihre Idee nahm lebhaft Gestalt an:  Sie wollte den Schülern die düsteren Märchengestalten der Gebrüder Grimm mit Hilfe eines lustigen Films präsentieren.

Aus einer gelungenen Mixtur verschiedener Märchen sollten die Kinder die einzelnen Geschichten erkennen. Nachdem diese dann in klassischer Form vorgelesen wurden, konnten die Kinder in Bildern – Portraits der Figuren oder als Comic – die Stories kreativ verarbeiten. Die Mädchen malten mit Hingabe rosafarbene Prinzessinnen, hässliche Hexen oder niedliche Zwerge. Die Jungs konzentrierten sich auf männliche Charaktere wie den stattlichen König, einen starken Zwerg oder das listige Rumpelstielzchen.

Und da begegnete ihr ein ganz besonderes Rumpelstielzchen: Statt um ein Feuer herumzutanzen, stand es einfach da und hielt einen Regenschirm schützend über sich. Zahlreiche Wassertropfen prasselten darauf nieder. Ein lustiges Bild! – schmunzelte sie innerlich. Allerdings verwunderten der Schirm und die Tropfen. „Warum hat Rumpelstielzchen einen Regenschirm?“ fragte sie den Schüler. „Die Prinzessin weint doch, und wegen der vielen Tränen braucht Rumpelstielzchen einen Regenschirm.“ Franziska Lachnit (2017)

Foto: Franziska Lachnit

Islandimpression

Kurz nach 10 Uhr. Die Morgendämmerung beginnt. Der Himmel wechselt von tiefem Schwarz zu eisigem Dunkelblau, und die Schneelandschaft zeichnet sich schemenhaft ab. Der Sturm der letzten Tage hat sich beruhigt. Neuschnee ist gefallen und liegt  wieder schützend über dem Land. Große Eisschollen treiben gemächlich auf dem Fluss in Richtung Fjord. Stille ist zurückgekehrt.

Zuvor herrschte über uns ein Sturmtief. Cholerisch zerrte der Wind am ganzen Haus und blies Schnee und Wasser über das Land. So hatte er gemeinsam mit peitschendem Regen in der Nacht die Flussufer und Berggipfel blank poliert.

Das Haus knarrte unter der Kraft des Sturms. Eine Schubkarre wirbelte wie ein Luftballon über die Ebene. Wir fühlten uns herausgefordert und bedroht, sobald wir draußen waren. Aber im Haus umfing uns eine wohltuende Wärme und Sicherheit. Vom Sessel aus gesehen, erschien das mächtige Naturschauspiel wie ein mystisches Ereignis.

Wenn wir das Tageslicht nutzen wollen, so müssen wir uns nun auf den Weg machen. Bereits um 16 Uhr versinkt die Sonne am Horizont – kaum dass sie es geschafft hat, einen Blick über die Bergketten zu werfen. Allerdings malt sie in der Zwischenzeit eine Landschaft in wunderbaren Farbschattierungen und taucht bei ihrem Untergang Himmel und Meer in feurige Glut. Und jeden Tag erschafft sie neue Farben, andere Bilder.

Die wenigen Stunden mit ihr erscheinen uns abwechslungsreicher als alle Werke der Kunstgeschichte. Früh fällt Dunkelheit über uns herein, knipst die Sterne an und lässt die Städte in der Ferne wie Lichterketten glitzern.  In unregelmäßigen Abständen erspähe ich ein Leuchten von Scheinwerfern, das sich allmählich nähert und schließlich vorbei fliegt – geräuschlos wie ein Geist. So beobachte ich Auto für Auto – gespenstisch dahin fließend wie die Eisschollen auf dem Fluss. Franziska Lachnit (2017)

Traumpaar

Sie lernten sich so zufällig kennen, wie man gelegentlich Geld auf der Straße findet. Und sie passten zusammen wie Wanderschuhe und High Heels. Vielleicht war aber genau das die Kraft ihrer gegenseitigen Anziehung, die sie gelegentlich mit Liebe verwechselten. Leidenschaftlich gingen sie miteinander um: Wenn es gut lief, meisterten sie jede Herausforderung mit wunderbarem Humor und konnten kaum die Finger voneinander lassen. Wenn es schlecht lief, zog schwarz und grummelnd ein Gewitter auf.

Sie duellierten sich mit ungleichen Waffen. Sie schleuderte ihm dann Argumente und Spitzfindigkeiten an den Kopf, während er mit der Faust auf den Tisch donnerte und vor innerem Feuer zu explodieren drohte. Das ein oder andere Mal fürchtete sie sich sogar vor ihm. Allerdings hätte sie ihn das niemals spüren lassen. Das, was er fürchtete, war ihre Selbstständigkeit. Vor nichts hatte er mehr Angst, als davor, dass sie ihn verlassen könnte. Und immer wieder tat sie genau das. Aber immer wieder kehrte sie auch zurück.

Es war die Sehnsucht nach den gemeinsamen Träumen, die sie wieder in seine Arme trieb. Wie Kinder saßen beide dann auf einer Schaukel – die Beine hoch in den Himmel schwingend, den Blick in eine unerreichbare Zukunft gerichtet. Und in kindlichen Gedanken machten sie sich als Abenteurer auf den Weg, um in der Abgeschiedenheit einer unbekannten Wildnis zu überleben.

Oder sie segelten entdeckungslustig über die Meere dem Horizont entgegen. Irgendwann aber wuchs bei ihr die Sehnsucht über das Träumen hinaus. Sie kehrte diesmal nicht wieder zu ihm zurück. Wählte einen anderen Weg.

Heute nennt er sich immer noch Abenteurer. Einer, der zwischen zwei Dörfern pendelt.
Sie ist immer noch von Sehnsucht besessen und lässt sich von ihr in die Welt hinaus treiben. Franziska Lachnit (2017)

Meisterhaft

Oder Haare schneiden tut gar nicht weh. Seit dem Drama beim ersten Frisörbesuch hatte Mama ihm die Haare geschnitten. Immer einen netten Pilzkopf: Deckhaar lang, aber Augen und Ohren frei. Das ging eine lange Zeit gut. Bis zu jenem Sommer, in dem der allgemeine Trend bei flotter Kurzhaarfrisur lag. „Kann ich auch so kurze Haare haben?“ – „Klar! Das geht prima mit der Haarschneidemaschine.

Du darfst nur keine Angst davor haben!“ – „OK.“ Mutter und Sohn richteten ihren kleinen, privaten Frisiersalon im Badezimmer ein. Der Haarschneideapparat war einsatzbereit. Der Sohn saß auf seinem Tripptrapp-Stuhl mit einem Müllbeutel umwickelt vor dem großen Spiegel. Die Mutter fuhr mit dem Haarschneider durch das dichte, lange Haar des Jungen. Rrrwusch … die erste Furche auf einer Kopfhälfte war gerodet … Rrrwusch … noch ein Streifen der langen Haare fiel zu Boden …. Rrrwtsch … tsch … tsch … das Gerät streikt.

Wie ein halb gerupftes Huhn hockt der kleine Mann da und behauptet: „Das ist OK so!“ Die Mutter ist der Verzweiflung nahe und von schlechtem Gewissen ergriffen: „Nein! Das ist keinesfalls OK so!“ „Wir müssen nun doch zum Frisör! Ob du willst oder nicht!“ „Nein, Mama! Das ist so in Ordnung!“ – Die eine Seite des Kopfes ist noch ganz mit dem Pilzfrisur-Haar bedeckt, während die andere Seite stümperhaft gemäht wurde. „Ich setze dir jetzt eine Kappe auf und schleife dich zum Frisör! Und wenn du auf dem ganzen Weg lauthals schreist, ist mir das egal!“

Der Junge spürt, dass es seine Mutter verdammt ernst meint und gibt schüchtern nach. Mit Kappe auf dem verunstalteten Kopf und Laufrad unter dem Popo folgt er seiner Mama zum Frisörsalon. Der kleine Laden ist proppevoll. Mutter und Sohn treten ein und werden von erstaunten Blicken empfangen: „Du musst mir helfen!“ ruft sie dem Coiffeur beschämt entgegen. Der begrüßt die beiden mit einem breiten Grinsen: „ Na, hast du Mist gebaut?“ – Meisterlich mit klappernder Schere rettet er, was zu retten ist, während der Junge immer noch auf dem sicheren Terrain seines Laufrades sitzt und allmählich die Furcht vor dem Haareschneiden verliert. Franziska Lachnit (2017)