Philosophischer Abend

„Endlich wieder Urlaub“, und direkt am ersten Abend begibt er sich früh in seine Stammkneipe. „Vielleicht treffe ich ein paar bekannte Gesichter und kann ein bisschen quatschen?“, hofft er. Anfangs ist er jedoch der einzige Gast. Der Wirt stellt ihm ohne Aufforderung das erste Kölsch auf die Theke. Er spült es in einem Zug hinunter. Wunderbar! Sofort bestellt er ein weiteres.

Dann tritt er vor die Tür, um eine Zigarette zu rauchen. Das Smartphone in der rechten Hand, die Zigarette in der linken, lehnt er lässig an der Laterne und schielt auf die Passanten. „Ist gar kein Bekannter in Sicht?“ Ein Pärchen schlendert Hand in Hand heran und öffnet tatsächlich die Tür zur Kneipe. Leider kennt er die beiden nicht. Hinter ihnen betritt auch er wieder den Schankraum, um sich über sein Kölsch herzumachen. Das Glas ist noch nicht leer, da stellt ihm der Wirt wortlos das dritte Bier vor die Nase. „Bei der nächsten Runde bitte ein Großes!“, fordert er freundlich.

Langsam füllt sich das Lokal mit Gästen. Jeder von ihnen ist in Begleitung. Manche kommen zu zweit, manche in Gruppen. Noch immer kennt er niemanden. Nach ein paar weiteren Zigaretten vor der Tür und dem, wer weiß wievielten, großen Kölsch entdeckt er endlich ein paar alte Bekannte. Ohne zu zögern, schnappt er sich sein Glas und steuert schwankend auf das Grüppchen zu.

„Hallo Leute! Lange nicht gesehen!“ … Er nimmt unaufgefordert Platz. Schleppend tastet man sich über die Zeit hinweg, in der man sich aus den Augen verloren hatte. Doch dann werden Schluck für Schluck Themen wie Geschichte, Wirtschaft, Bildung, Umwelt vertieft. Zunehmend berauscht vom Alkohol erreicht die Diskussion schließlich eine Ebene, dass Außenstehende den Eindruck bekommen, Platon, Nietzsche, Sloterdijk & Co. befänden sich in regem Austausch. Große Philosophen – endlich vereint an einem Tisch! Franziska Lachnit (2019)

Ein Tag wie jeder andere

Rudi begibt sich früh auf den Weg in die Stadt. Er möchte am Café ankommen, wenn es öffnet. Nachdem ihn um sieben Uhr die kläffenden Hunde des Nachbarn geweckt hatten, stand er auf und schlurfte noch recht verschlafen ins Badezimmer. Nach der warmen Dusche und dem ersten Kaffee fühlte er sich bereits wach genug, um gegen halb neun die Wohnung zu verlassen.

Er erwischt den Bus um 8.35 Uhr, der ihn in die Innenstadt bringt. Dann steht er zehn Minuten zu früh vor dem Café, das erst um neun Uhr seine Pforten öffnet. Rudi macht das Warten nichts aus. Er wartet sowieso immer. Den ganzen Tag. Jahr um Jahr. Sein Leben lang. Und zwar wartet er auf eine Frau. Die richtige Frau! – Rudis Aussehen offenbart, dass er schon eine Menge durchgemacht hat: Fahles, schütteres und wirres Haar, Tränensäcke unter den blassen Augen und ein schmuddeliger Dreitagebart zeigen nicht seine beste Seite. Auch die schlaffen Arme und der ungesunde Schwabbelbauch ziehen nicht die Blicke attraktiver Damen auf ihn. Doch eines kann Rudi richtig gut: Reden.

Er quatscht einfach eine Lady an und verwickelt sie in ein Gespräch. Die meisten der Damen lassen sich auf diese Weise eine Menge ihrer Lebensgeschichte entlocken und finden Rudi gar nicht so übel. Aber dann taucht eine Freundin auf, mit der Rudis Zufallsbekanntschaft verabredet war. Bestenfalls!

Schlimmstenfalls ist es der Lebensgefährte der Dame oder ein Blind Date. Rudi gibt alles. Ist witzig und charmant. Und trotzdem werden seine Bemühungen immer unterbrochen. Nie kommt er ans Ziel. Wenn er nur einmal eine nette Frau zu einem weiteren Treffen überzeugen könnte! Dann … ja, dann hätte er sicher gute Chancen! – denkt er. Auch heute betritt er wieder hoffnungsvoll gestimmt das Café … um einen Tag wie jeden anderen zu erleben. Franziska Lachnit (2019)

Sonniger Sonntag

Ein herrlicher Wintertag. Endlich. Denn endlos erschienen die Tage, die sich in einheitliches Grau hüllten und immer schon morgens zum Abend wurden. Licht gab’s nur elektrisch oder für den Romantiker bei Kerzenschein. Heute aber begrüßt uns die Sonne mit einem schmunzelnden „Hallo! Ich bin noch da!“ und erleuchtet diesen Sonntag.

Das weckt die Geister, die sich längst dem Winterschlaf hingegeben hatten. Raus aus dem Bett! Kaffee und gebutterte Brötchen mit Himbeermarmelade. Dann warm anziehen – das Thermometer widersetzt sich dem äußeren Anschein: Auch wenn die Sonne strahlt, ist es klirrend kalt. In die Winterrüstung gehüllt trete ich vor die Tür. Ziehe diese kräftig zu, atme tief durch und fühle mich wie ein Häftling, der endlich sein Gefängnis verlassen kann. Freiheit! –Doch ich begehe einen Fehler und spaziere nach Rhöndorf.

Der Weg erfreut noch meine Sinne: Kahle Baumkronen zeichnen mit ihrem Geäst Bilder an den blauen Himmel. Traumhafte Häuser säumen die Straße. Aus manchen weht bereits der Duft von Bratensoße und anderen Köstlichkeiten des Sonntagsmahls. Kirchenglocken bimmeln. „Schön ist es in unserem Städtchen!“ Aber als ich durch das friedliche Gässchen – rechts die gackernden Hühner von Frau Koch sowie die freundlich kläffenden Hunde von Herrn Koch – auf die Löwenburgstraße gelange, erkenne ich meinen Fehltritt.

Hier ist die Hölle los! Menschenströme von rechts nach links und umgekehrt. Irrfahrende Autos auf der Suche nach dem perfekten Parkplatz – möglichst direkt vor Herrn Adenauers Grab. Vom Blitz der Erkenntnis getroffen bleibe ich stehen. Und jetzt? Soll ich mich durch die Besucher kämpfen, um bei Peter ein Stück herrlicher Torte zu ergattern? Oder ergreife ich die Flucht durch den Wald? Schließlich ziehe ich meinen Kopf tief zwischen die Schultern und beeile mich, den Rhein zu erreichen, um in ruhigere Gefilde und wieder nach Hause zu gelangen. Franziska Lachnit (2019)

Die Doppelgängerin

Wie konnte sie ihrem Stil dermaßen untreu werden? Verlottert, ungeschminkt, mit abgetragenen Klamotten und zerzauster Frisur erscheint sie am Flughafen, um nach Deutschland zu fliegen. Ihre Haare sind leicht rötlich statt tief schwarz, ebenso gelockt – aber nicht mit Gel gestylt. Ihre Augen sind blass – beinahe wässrig, nicht von dunkler Intensität. Doch der Blick ist wie eh und je arrogant und vor allem distanziert. Die Haut wirkt fahl und trocken. Hatte sie nicht immer eine hitzige Röte im Gesicht? Und ein paar Schweißperlen auf Stirn und Hals?

Ihre Nase stippt unpassend zierlich und keck aus dem sonst konturlosen Gesicht. Darunter ziehen die dünnen Lippen eine gerade, strenge Linie. Nur, wenn ihr etwas missfällt, verändert sich diese Linie: Entweder bringt sie ein bedauernswertes Halblächeln hervor oder sie zieht verächtlich, aber kaum sichtbar die Mundwinkel nach unten. Doch zu farblos sind nun diese Lippen. Im Gegensatz dazu erscheint ihre Kleidung zu bunt. Und zu billig. Sie trägt eigentlich immer Schwarz-Weiß und Stoffe bester Qualität, oft maßgeschneidert. Jetzt hat sie sich in einen Farbtopf der Willkür geworfen – offenbar bei Woolworth.

Pastellig-melierter Mantel aus Kunstfaser. Flauschiger, mit bunten Glitzerfäden durchwobener Pullover. Eine herkömmliche Jeans, die unvorteilhaft die Oberschenkel umspannt. Und ihr Accessoire erübrigt jede Frage zum guten Geschmack. Ist sie noch sie selbst? Sie greift den Plastikbecher mit Cola in derselben Haltung wie ein Glas edlen Scotchs. Sie kaut mit derselben Missachtung den staubigen Apple-Cake wie sonst rohes Gemüse. Sie knabbert mit der ihr eigenen Fingerhaltung an den Nägeln. Sie muss es sein! Wenn auch so verändert. Oder ist es eine Schwester? Vielleicht sogar eine geheime Zwillingsschwester? Oder ist es doch nur der Doppelgänger, den jeder irgendwo auf der Welt hat? Franziska Lachnit (2019)

Hinter verschlossener Tür

Da las ich früher „Lukullus“, die wöchentliche Metzgerzeitung. Eigentlich las ich nur das Horoskop und erklärte es für die einzig wahre Weissagung. Alle anderen Horoskope waren bedeutungslos. Ich las auch in der „Prisma“. Und zwar das kleine Mickey-Mouse-Comic auf der ersten Seite, den Kurzkrimi sowie selbstverständlich das Fernsehprogramm des aktuellen Tages. Als es an der Zeit war, sich mit ernsthafteren Themen zu beschäftigen, kamen die gesammelten Gedichte Eduard Mörikes zur täglichen Lektüre hinzu.

In Absprache mit meinem Vater lernten wir ein paar davon auswendig. Stets jeder für sich, hinter verschlossener Tür. Manchmal suchte ich ein Werk eines anderen Dichters aus, schrieb es ab und pinnte es an die Wand, damit wir auch dieses lernen konnten. Die intellektuelle Krönung meiner Lektüre wurde schließlich Emmanuel Kant: Grundlagen zur Metaphysik der Sitten. Ein unscheinbares gelbes Reclam-Heftchen mit undurchdringlichem Inhalt. Selbst mein späterer Philosophielehrer konnte meinem Geist keinen Weg dafür bahnen. Und so musste ich zur Lockerung meines Hirns und anderer Organe gelegentlich nochmal ein Horoskop oder einen Kurzkrimi dazwischenschalten.

Irgendwann haben wir Kant, den Unergründlichen, durch Joseph von Eichendorff ersetzt. Logik gegen Romantik. Kopf gegen Herz. Das war auf jeden Fall wohltuend für meine Seele und meinen Körper! Dann zog ich von Zuhause aus. Damit veränderten sich meine Lesegewohnheiten hinter der verschlossenen Tür: Ich blätterte lieber Kataloge schwedischer Einrichtungs- oder Modehäuser.

Doch inzwischen habe ich eine neue intellektuelle Herausforderung entdeckt: Ein verdrehter Kleinkünstler erzählt von seinen Erlebnissen mit einem kommunistischen Känguru. Äh?! Was? – Genau! Aber diese Stories übertreffen alles, was ich zuvor am stillen Örtchen gelesen habe und bringen sowohl Geist als auch Körper in wohltuenden Schwung. Franziska Lachnit (2019)

Eigene Wege

Er war fünf Jahre alt, als er zum ersten Mal seine Familie verließ. In ein kleines – mit Märchenfiguren bedrucktes – Taschentuch hatte er ein paar Süßigkeiten gepackt und das Tüchlein an einen Stock geknotet. Diesen Stock schulterte er und verließ das hölzerne, in den Dünen gelegene Ferienhaus. Mit energischem Gummistiefel-Schritt entfernte er sich durch das Heidekraut. Meter um Meter. Immer weiter.

Mama und Papa schauten ungläubig aus dem Fenster und erwarteten jeden Augenblick seine Umkehr. Doch er kehrte nicht um. Er wanderte hinaus aus ihrem Blickfeld und verkroch sich irgendwo in der blühenden Erika. Den Eltern fiel es schwer, ruhig zu bleiben und keine Sorge aufkommen zu lassen. Die Sonne senkte sich schließlich im Westen auf den Horizont zu und färbte den herannahenden Abend in blutiges Orange.

Noch immer war er nicht zurückgekehrt. Jetzt zog der Papa los, um seinen Sohn zurück zu holen. Erleichtert öffnete die Mama die Tür und ließ die Beiden hinein ins gemütliche Häuschen. Diesen ungeheuerlichen Mut, das elterliche Haus zu verlassen und eigene Wege zu gehen, brachte er in den darauffolgenden Jahren nicht mehr auf. Stattdessen verschanzte er sich und schürte im Inneren seine unfassbaren Ängste – solange bis deren Glut nicht mehr zu löschen war und jeder Weg zu einer Sackgasse wurde.

Wenn er sich jetzt noch retten wollte, müsste er springen! Wieder schnürte er ein Päckchen – diesmal gefüllt mit Dosenbier und Zigaretten – und begab sich zur höchsten Brücke weit und breit. Diesmal sollte es ein endgültiger Abschied sein! Der Papa wusste nichts. Konnte ihn nicht nach Hause holen. Es war ein Freund, der im letzten Augenblick in die Dunkelheit kam, um ihn an die Hand zu nehmen und aus dieser Sackgasse herauszuführen. Jetzt stiefelt er – mal ängstlich, mal zuversichtlich – auf seinem Weg, der ihn in die Ferne führt. Und niemals zurück! Franziska Lachnit (2019)

„Alles, was man liebt

wird zu einer Geschichte.“ Den Satz leihe ich mir von meiner derzeitig favorisierten Autorin. Und da ich meine Kindheit und Jugend liebe, könnte ich zahlreiche Geschichten darüber erzählen. Der zärtliche Schneefall heute Morgen versetzte mich wieder in einen Moment dieser Zeit: Weihnachtsferien vor ungefähr 33 Jahren. Es hatte mächtig geschneit. So viel, dass sogar die Ferien wegen ungewohnter Verkehrsverhältnisse verlängert wurden. Jeden Abend saß ich mit einem Kumpel vor dem Radio, um zu hören, wie es am nächsten Tag sein sollte. Wieder schulfrei! Hurra!

Dann können wir morgen Schlitten fahren – jubelten wir. Allerdings würden wir nicht bei Tageslicht zu einem nahegelegenen Hügel stapfen, sondern in der Dämmerung des frühen Abends zur Rodelpiste fahren, die einige Kilometer entfernt war. Wir trafen uns im gelben Licht der winterlichen Straßenlaternen. Unsere Schlitten banden wir mit ihren Seilen an die Gepäckträger der Fahrräder. Dann radelten wir los. Durch Schneematsch und herabfallender Dunkelheit. Der Dynamo kapitulierte, und der Schlitten im Schlepptau schlingerte bedrohlich von rechts nach links und umgekehrt. Jedes vorbeikommende Auto war eine Gefahr für uns.

Und jeder Autofahrer musste seinerseits diese Radfahrer mit den schlabberigen Schlittenanhängern als Gefahr empfunden haben. Als wir endlich unser Ziel erreichten, konnten wir im Schwarz des Abends die Rodelpiste nicht finden. Mit jugendlicher Entschlossenheit bestimmten wir unsere eigene Rodelstrecke. Das hätte schief gehen können. Doch es wurde zu einem besonderen Erlebnis. Wir rutschen auf den Schlitten in die Finsternis, umschifften blind ein paar Bäumchen, landeten letztendlich heil in einem Irgendwo. Hui! Noch ein paar weitere Abfahrten. Danach schlingerten wir auf den Fahrrädern, die Schlitten wieder im Schlepptau, über schneematschige Straßen zurück ins warme, kerzenerleuchtete Heim. Franziska Lachnit (2018)

Stadtbummel

Nach einem unerfreulichen Abstecher nach Bonn, wo der Regen ungemütlich und beharrlich plädderte, schlendere ich heute gelassen und trockenen Fußes durch unser kleines Städtchen. Wetterlage winterlich, aber somit der Adventszeit und dem Gemüt entgegenkommend. Einen ersten postalischen  Weihnachtsgruß werfe ich bei einer Freundin in den Briefkasten.

Dann gebe ich ein Vorweihnachtsgeschenk für meinen Bruder bei der Post auf. Meine Gedanken durchforsten nun die imaginäre To-Do-Liste: Morgen ist Nikolaus-Tag! – fällt mir dabei ein. Sollte ich meinen Kleinen, die nicht mehr klein sind, eine Überraschung bereiten? Keiner von beiden erwartet den üppig gefüllten Stiefel vor der Tür wie damals, als sie noch wirklich klein waren. Ich finde etwas Künstlerisches für die Tochter. Etwas Sportliches für den Sohn. Sehr schön! Ein paar Köstlichkeiten gehören auch dazu!

Ein Likörchen für die „Große“ und ein lokales Bierchen für den „Kleinen“. Jetzt fehlen noch die typischen Nikolaus-Gaben wie Nüsse, Mandarinen, Feigen und Äpfel. „Sesam öffne dich!“ – Und siehe da: Knackige Nüsse, saftige Mandarinen, getrocknete Feigen und glänzende Granatäpfel hüpfen in meinen Einkaufsbeutel. Neben mir steht eine andere Kundin, die sich hier den köstlichen Verlockungen hingibt und dabei fröhlich kommentiert: „Ich bin 87 Jahre alt. Ich lache immer und mache Scherze! Ich werde hundert Jahre alt.“

Und lachend verlässt die betagte, dennoch rüstige Dame den Laden. Hundert Jahre alt zu werden, traue ich ihr durchaus zu! – Kein Scherz! – Dann erscheint  ein sehr großer, beleibter Kunde. Es soll kassiert werden und er schlägt vor: „Oder ich singe!“ – „Dann gehen Sie besser zur Sparkasse!“ – „Warum?“ – „Dort vertreiben Sie keine Kunden“, lächelt der Händler. Ich verstehe und begebe mich schmunzelnd auf den Heimweg. Franziska Lachnit (2018)

Mein Baum

Ich lebe auf einem Baum, einer Linde. Neben meinem Baum stehen auch andere Bäume. Dennoch bin ich nie auf die Idee gekommen umzuziehen. Ich liebe meinen Baum! Er hat die vollkommene Form mit seinem Geäst und Blätterwerk. Wie eine grüne Wolke liegt diese Krone auf seinem Haupt. Im Frühjahr frisch und lebenshungrig. Im Sommer blühend und in Duft gehüllt. Mit seiner Blätterfülle gibt er mir dann vollkommenen Schutz. Später, wenn schleichend der Herbst naht, verwandelt sich langsam das Laub von sattem Grün in kräftiges Gelb, bis es sich schließlich verabschiedet und vom Wind fortgetragen wird.

Von dem Ast aus, auf dem ich am liebsten sitze, eröffnet sich nun ein weiter Blick auf die Umgebung. Die Sonne erreicht mich noch und vertreibt die Kälte, die die Nacht hinterlassen hat. Der Winter scheint noch fern – bricht aber plötzlich über meinen Baum und mich herein. Und dann, wenn alles um uns herum frostig wird, Raureif die nackten Äste glitzern lässt, spricht mein Baum eine besondere Sprache. Und ich höre genau zu. Denn nun sind die Tage einsam und still. Wenige Vögel, die von Ast zu Ast hüpfen und sich leise unterhalten.

Keine Bienen, die summen. Menschen nur noch gedämpft und hinter Mauern; nicht mehr wie im Sommer laut lachend auf Partys. So hüllt mich der Winter in seinen Frieden. Ich kräusel mich auf meinem Lieblingsast ein, schaue in den klaren Himmel, der früh von Dunkelblau in Schwarz versinkt. Etwas in mir löst sich und geht auf Reise: Meine Reise führt in die Vergangenheit. In die Zeit, als der Baum noch nicht mein Zuhause war. Damals lebte ich in einem Gefängnis aus Gewohnheit und Pflichtgefühl.

Eingemauerte Routine. Lebensfreude war nur eine Erinnerung. Leidenschaft eine Sehnsucht. Aber Erinnerung und Sehnsucht waren letztendlich so mächtig, dass sie mich hinaus führten. Jetzt bin ich hier. Auf meiner Linde. Hier, wo ich die Jahreszeiten in all ihrer Härte und Zärtlichkeit erfahre. Wo Kälte und Hitze, Dunkelheit und Sonnenlicht, Lärm und Stille – wo diese Gegensätze meine Welt bedeuten. Franziska Lachnit (2018)

Das ging in die Hose

Peter, gerade sechs Jahre alt geworden, kannte nichts Schöneres, als mit einer Schar anderer Jungen zu spielen. Draußen im Hof des Nachbarhauses oder in der alten Scheune von Bauer Ritz. Manchmal wanderte der Trupp bis zum kleinen Wäldchen am Ortausgang. Verstecken, Räuber und Gendarm, Cowboy und Indianer – das waren ihre Lieblingsspiele. In der Scheune und im Wäldchen konnte man auch prima klettern oder aus Stroh bzw. Ästen und Laub Hütten bauen. Die Nachmittage vergingen wie im Flug.

Peter verlor sich jedes Mal ganz und gar in diesen Spielen. Er vergaß, dass es auch noch eine andere Welt gab. Dass er irgendwann zum Abendbrot zu Hause sein musste. Einmal vergaß er, dass da ein dringendes Bedürfnis war. Es drängte und drückte, aber Peter war ins Spiel vertieft. Bis zu dem Moment, in dem sogar Peter einsehen musste, dass es unbedingt erforderlich war, den Heimweg anzutreten. Schweren Herzens verabschiedete er sich von seinen Kameraden und rannte in Richtung seines Zuhauses.

Allerhöchste Not! Endlich an der Haustür angelangt, fällt ihm jedoch der Fliederstrauch gegenüber der Tür auf. Als hätte er ihn zuvor noch nie gesehen, wurde er magisch von ihm angezogen: „Los, Junge! Klettere an mir hoch!“ – schien der Strauch zu flüstern. Peter konnte nicht widerstehen. Vergaß ein weiteres Mal das dringende Bedürfnis, das ihn eigentlich hierher getrieben hatte.

Er streckte die Arme nach den dünnen Ästen aus. Zog sich hoch und setzte einen Fuß nach dem anderen hinterher. Das Geäst gab nach, die Beine wurden auseinander gedrückt … und jetzt bahnte sich der innere Druck endlich den Weg nach draußen. Alles, wirklich alles ging nun in die Hose. Peter wurde abrupt in die Wirklichkeit zurückgeholt. Kletterte hastig und beschämt aus dem Strauch. Treppe hinauf. In der Küche saßen Mutter und Schwestern beisammen. Als sie das Malheur erkannten, fielen sie in herzhaftes Lachen. Peter allerdings kamen in diesem Moment die Tränen. Franziska Lachnit (2018)