Traumpaar

Sie lernten sich so zufällig kennen, wie man gelegentlich Geld auf der Straße findet. Und sie passten zusammen wie Wanderschuhe und High Heels. Vielleicht war aber genau das die Kraft ihrer gegenseitigen Anziehung, die sie gelegentlich mit Liebe verwechselten. Leidenschaftlich gingen sie miteinander um: Wenn es gut lief, meisterten sie jede Herausforderung mit wunderbarem Humor und konnten kaum die Finger voneinander lassen. Wenn es schlecht lief, zog schwarz und grummelnd ein Gewitter auf.

Sie duellierten sich mit ungleichen Waffen. Sie schleuderte ihm dann Argumente und Spitzfindigkeiten an den Kopf, während er mit der Faust auf den Tisch donnerte und vor innerem Feuer zu explodieren drohte. Das ein oder andere Mal fürchtete sie sich sogar vor ihm. Allerdings hätte sie ihn das niemals spüren lassen. Das, was er fürchtete, war ihre Selbstständigkeit. Vor nichts hatte er mehr Angst, als davor, dass sie ihn verlassen könnte. Und immer wieder tat sie genau das. Aber immer wieder kehrte sie auch zurück.

Es war die Sehnsucht nach den gemeinsamen Träumen, die sie wieder in seine Arme trieb. Wie Kinder saßen beide dann auf einer Schaukel – die Beine hoch in den Himmel schwingend, den Blick in eine unerreichbare Zukunft gerichtet. Und in kindlichen Gedanken machten sie sich als Abenteurer auf den Weg, um in der Abgeschiedenheit einer unbekannten Wildnis zu überleben.

Oder sie segelten entdeckungslustig über die Meere dem Horizont entgegen. Irgendwann aber wuchs bei ihr die Sehnsucht über das Träumen hinaus. Sie kehrte diesmal nicht wieder zu ihm zurück. Wählte einen anderen Weg.

Heute nennt er sich immer noch Abenteurer. Einer, der zwischen zwei Dörfern pendelt.
Sie ist immer noch von Sehnsucht besessen und lässt sich von ihr in die Welt hinaus treiben. Franziska Lachnit (2017)

Meisterhaft

Oder Haare schneiden tut gar nicht weh. Seit dem Drama beim ersten Frisörbesuch hatte Mama ihm die Haare geschnitten. Immer einen netten Pilzkopf: Deckhaar lang, aber Augen und Ohren frei. Das ging eine lange Zeit gut. Bis zu jenem Sommer, in dem der allgemeine Trend bei flotter Kurzhaarfrisur lag. „Kann ich auch so kurze Haare haben?“ – „Klar! Das geht prima mit der Haarschneidemaschine.

Du darfst nur keine Angst davor haben!“ – „OK.“ Mutter und Sohn richteten ihren kleinen, privaten Frisiersalon im Badezimmer ein. Der Haarschneideapparat war einsatzbereit. Der Sohn saß auf seinem Tripptrapp-Stuhl mit einem Müllbeutel umwickelt vor dem großen Spiegel. Die Mutter fuhr mit dem Haarschneider durch das dichte, lange Haar des Jungen. Rrrwusch … die erste Furche auf einer Kopfhälfte war gerodet … Rrrwusch … noch ein Streifen der langen Haare fiel zu Boden …. Rrrwtsch … tsch … tsch … das Gerät streikt.

Wie ein halb gerupftes Huhn hockt der kleine Mann da und behauptet: „Das ist OK so!“ Die Mutter ist der Verzweiflung nahe und von schlechtem Gewissen ergriffen: „Nein! Das ist keinesfalls OK so!“ „Wir müssen nun doch zum Frisör! Ob du willst oder nicht!“ „Nein, Mama! Das ist so in Ordnung!“ – Die eine Seite des Kopfes ist noch ganz mit dem Pilzfrisur-Haar bedeckt, während die andere Seite stümperhaft gemäht wurde. „Ich setze dir jetzt eine Kappe auf und schleife dich zum Frisör! Und wenn du auf dem ganzen Weg lauthals schreist, ist mir das egal!“

Der Junge spürt, dass es seine Mutter verdammt ernst meint und gibt schüchtern nach. Mit Kappe auf dem verunstalteten Kopf und Laufrad unter dem Popo folgt er seiner Mama zum Frisörsalon. Der kleine Laden ist proppevoll. Mutter und Sohn treten ein und werden von erstaunten Blicken empfangen: „Du musst mir helfen!“ ruft sie dem Coiffeur beschämt entgegen. Der begrüßt die beiden mit einem breiten Grinsen: „ Na, hast du Mist gebaut?“ – Meisterlich mit klappernder Schere rettet er, was zu retten ist, während der Junge immer noch auf dem sicheren Terrain seines Laufrades sitzt und allmählich die Furcht vor dem Haareschneiden verliert. Franziska Lachnit (2017)

Haare schneiden tut weh

Sein dichtes Haar fällt ihm in die Augen und überwuchert die Ohren. Immer wieder muss er die Strähnen aus seiner Sicht schieben oder einzelne Haare aus den Augen blinzeln. Ein erster Frisörbesuch ist fällig!

Der Junge traut der Sache aber nicht so recht. „Wenn dieser Frisör an mir herum schneidet, tut das doch weh!“ denkt er. Als er sich einmal beim Basteln mit der Kinderschere in den Finger schnitt, blutete er und hatte so lange Schmerzen, bis Mama ihm ein buntes Pflaster auf die Wunde klebte. Und deshalb möchte er nicht zum Frisör.

Lieber schielt er weiterhin durch die Fransen hindurch. Und die Haare über den Ohren halten ohnehin schön warm. So versucht er, seine Mutter davon zu überzeugen, den Termin beim Haareschneider abzusagen. Natürlich lässt sie sich von seinen Argumenten nicht beeindrucken und besteht am Tag und zur Stunde des Termins darauf, ihn zum Coiffeur zu schleifen. Tapfer geht er schließlich mit.

Dort lässt er sich auf den Kinder-Frisör-Thron hieven und in einen weiten Umhang wickeln. Als jedoch der Meister zur Schere greift, packt den Kleinen Panik. „Noch ist es nicht zu spät, der Folter zu entkommen!“ schießt ihm durch den Kopf. Schnell rutscht er von dem Sitz – zum Erstaunen des Frisörs und Entsetzen der Mutter. Mit wehendem Umhang ergreift er die Flucht und rennt laut schreiend die Straße hinunter.

Instinktiv nimmt die Mutter die Verfolgung ihres Sohnes auf. Ziemlich schnell für einen kleinen Kerl hat er bereits einen enormen Vorsprung. Mit großen Schritten holt die Mutter auf, schnappt den Sohn und führt ihn wieder zurück. Ihr Wille ist noch nicht gebrochen. Allerdings zeigt sich der Coiffeur voller Einsicht dem jungen Mann gegenüber: „Wenn er partout nicht will, kann ich nichts machen!“ Diesmal hat der Kleine gewonnen. Erst einige Jahre später führt ihn eine andere Geschichte wieder in den Frisörsalon. Franziska Lachnit (2017)

Mutprobe

Hanoi, Vietnam am Vormittag. Wir stehen an einer unscheinbaren Straßenkreuzung. Vor uns ist die Hölle los: Motorroller sausen lautstark knatternd in Schwärmen an uns vorbei, Autos sporadisch dazwischen. Alles fließt wie ein stetiger Strom. Jeder Fußgänger, der die Straße überqueren möchte, ist nahezu todesmutig.

Man muss drauf los laufen, sich durch das Gewusel manövrieren, sich hindurch schwemmen lassen – sonst schafft man es nicht. Wir müssen in diesem Moment nichts befürchten, denn wir warten lediglich auf unseren Bus. Gegenüber erscheinen zwei – offensichtlich europäische – Touristinnen. Beide bleiben zunächst respektvoll stehen. Die eine zückt dann ihr Handy und beginnt zu filmen.

Die andere … geht los. Wagt sich auf die Straße. Unsicher und mit verspanntem Gesichtsausdruck. Nach ein paar Schritten lockert sich ihre Mimik, der Schritt wird forscher. Sie schiebt sich vorsichtig, aber souverän zwischen den dahin sausenden Motorrollern hindurch. Ab Straßenmitte überwältigt sie ein Lächeln – zuerst der Erleichterung, dann des Triumphs. Sie hat es geschafft.

Ihre Freundin folgt ihr nun zuversichtlich und erreicht ebenfalls unsere Straßenseite. Die beiden Damen sind Italienerinnen – heilfroh, dieses kleine Abenteuer überlebt zu haben. Ich mische mich in ihr Gespräch: Behaupte schmunzelnd, dass der Straßenverkehr in Italien doch derselbe wäre.

Daraufhin bestürmen mich beide sehr lebhaft: Die Damen kommen aus Norditalien, wo der Verkehr selbstverständlich zivilisiert verläuft („Wer’s glaubt!“ zweifle ich still). Aber in Neapel! Dort geht es genauso zu wie hier in Hanoi („Das glaube ich gerne!“). Nach dem kurzen Wortwechsel wünscht man sich gegenseitig „Buon viaggio!“. Unser Bus kommt, und die mutigen Italienerinnen gehen ihres Weges. Franziska Lachnit (2016)

Trautes Heim

Im späten Frühjahr zogen Ella und Walter mit ihrem Baby in die schöne, alte Villa am Stadtrand, die sie nach harten Verhandlungen mit der Bank endlich finanzieren konnten.

Die letzten Renovierungen der Vorbesitzer waren zwar frisch, aber so stümperhaft, dass im Laufe der Zeit das Gefühl aufkam, man befände sich eher in einer Bruchbude, als in einer Villa. Für neue Renovierungen fehlte allerdings vorläufig das Geld. Und das Paar versuchte, den Charakter ihres Hauses mit eigenen Händen aufzufrischen.

Als sich jedoch der Sommer verabschiedete und herbstliche Stürme aufkamen, pfiff der Wind durch die klapperigen Holzsprossenfenster. Ella und Walter erkannten, dass ihr Heim gar nicht so gemütlich war, wie sie es sich vorgestellt hatten. Und dann kam auch noch das Wochenende, an dem das Heizöl ausging: Ella musste mal wieder früh aufstehen, weil das Baby nach seinem Fläschchen schrie.

Nachdem es nochmal eingeschlafen war, nutz Ella die Zeit, die sie nun ganz für sich hat, um zu lesen. Zwar noch im Schlafanzug, aber auch in Winterjacke und Decke gehüllt – sitzt sie mit ihrem Buch in der Küche. Der Tee dampft in die Kälte des Raums. Ein Stück Pappe, das eine kleine, kaputte Scheibe des Sprossenfensters ersetzen soll, klappert leise im Windzug.

Der Kronleuchter wirft schummriges Licht auf den Tisch. Die Flamme einer flackernden Kerze täuscht ein wenig Wärme vor. Ella ist in die Geschichte vertieft, die sie liest: Sie hört, wie Schnee unter den Hufen eines Pferdes knirscht und wie Feuer in einem Kamin knistert.

Duft von heißem Würzwein steigt ihr in die Nase – angenehm und verlockend… Als sie irgendwann von den Seiten des Buches aufschaut und sich aus der Geschichte herauslöst, empfindet sie trotz der Kälte in ihrer Küche wohlige Gemütlichkeit, und sie fühlt, dass dies ihr Zuhause ist. Franziska Lachnit (2017)

Elisabeth

„Warum weint sie nicht? Elisabeth, die Frau mit dem zarten Gesicht, der schweren, das gesamte Haar umhüllenden Haube und dem tonnenartigen Kleid“ überlegte ich, als ich diese Skulptur aus hellem Holz und Metall betrachtete. Der Künstler hatte das Gesicht und die zierlichen Schultern einer schönen jungen Frau in das grobe Holz geschnitzt. Aber auf ihrem Kopf lastete schwer eine rostbraune Haube. Der Körper war gefangen in diesem Kleid, das sich mächtig um ihn wölbte. Ich war selbst noch sehr jung, als mir Elisabeth begegnete. Und immer wieder verliere ich sie aus meinen Gedanken. Aber immer kehrt sie zurück. So wie heute. Ich wollte sie wiedersehen und suchte im Internet nach ihr: Die Skulptur habe ich nicht gefunden, aber die Geschichte der Heiligen Elisabeth. Jetzt erkenne ich, dass diese Geschichte auch die der Elisabeth aus Holz und Metall ist: Eine junge, hoch geborene Frau verliert, während sie schwanger ist, ihren Mann, den Landgrafen von Thüringen. Der Schmerz ist so groß, dass sie daraufhin allen weltlichen Gütern entsagt, ihre drei Kinder weggibt, sich ganz der Hilfe für die Armen und Aussätzigen verschreibt. Von ihrer Familie verstoßen, stirbt sie sehr jung und wird bereits ein paar Jahre später heiliggesprochen. Zwang, Flucht und innere Freiheit müssen für ihr Leben bestimmend gewesen sein: „So ziemt es uns auch immer, dass wir gebeugt und gedemütigt werden und nachher wieder heiter und vergnügt dastehen.“ sagte sie. Die Worte erinnern mich an eine weitere Elisabeth: Diese ist nicht mehr jung. Das Leben hat auch ihr oft hart zugesetzt, aber ihre Augen behaupten das Gegenteil und empfangen mich mit Heiterkeit und verschmitzter Vergnüglichkeit – vehement den Zeilen „Lisa, Lisa, sad Lisa, Lisa, Lisa“ widersprechend, die mir Cat Stevens gerade ins Ohr säuselt. Franziska Lachnit (2017)

Vater

Mein Vater wurde während des zweiten Weltkriegs als drittes Kind und Nachzügler geboren. Seine beiden Schwestern, meine Tanten also, waren bereits neun und elf Jahre alt.

Mein Großvater arbeitete zu der Zeit in aussichtsreicher Position einer Zuckerfabrik in Oberschlesien. Erst später musste er, wie fast alle Männer, an die Front – und geriet in Gefangenschaft. Noch etwas später musste meine Großmutter mit den drei Kindern sowie ihrer Mutter aus der Heimat fliehen.

Als mein Vater zur Welt kam, war es normal, dass man sich vor der Geburt eines Kindes noch nicht überlegt hatte, wie dieses heißen sollte. Man wusste ja auch nicht, ob es ein Mädchen oder ein Junge wird! Diesmal war es ein Junge. Die großen Schwestern waren hellauf begeistert. Und was den Namen ihres kleinen Bruders betraf, so gab es für sie keinen Zweifel: „Peter!“

„Er soll Peter heißen!“ riefen beide im Chor. „Unser Peterle …“ flüsterten sie über seine Wiege gebeugt. Wahrscheinlich hatten die Mädchen Peterchens Mondfahrt oder Peter Pan gelesen und dachten, dass dieser Name mit märchenhaften Geschichten und einer traumhaften Zukunft verbunden wäre. Da ihr Bruder etwas Besonderes war und ihm ein märchenhaftes Leben gebührte, wäre der Name geradezu passend.

Ein paar Tage nach der Geburt des Sohnes radelte mein Großvater schnurstracks durch die winterliche Landschaft zum Standesamt – kann auch sein, dass man ihn dorthin chauffierte. Sehr entschlossen und mit väterlicher Autorität ließ er verlauten:

„Ich möchte meinen Sohn Wolfgang Friedrich als neuen Bürger anmelden.“ – Wie meine Tanten es aufnahmen, dass ihr Bruder nicht nach den verehrten Märchengestalten benannt wurde, weiß ich nicht. Wahrscheinlich waren sie traurig, aber mein Großvater hatte offensichtlich andere bedeutende Vorbilder im Sinn. Franziska Lachnit (2017)

Dummes Huhn

Geschichte vom Land oder Freiheit ist relativ

„Du dummes Huhn“ dachte ich, als ich aus dem Fenster auf der Rückseite des Hauses schaute und das Huhn entdeckte. Das Huhn war irgendwie aus dem Hühnergehege herausgekommen und stand nun alleine auf der einen Seite des Zauns, während alle anderen Hühner auf der anderen Seite unbeeindruckt und gesellig im Boden pickten. Das entwischte Huhn sah verzweifelt aus. Es lief hin und her am Zaun entlang und immer mit sehnsüchtigem Blick auf die anderen Hühner jenseits des Zauns.

Wie dumm muss das Huhn sein, dass es ein Schlupfloch in die Freiheit fand; nun aber nicht mehr weiß, wo dieses Loch ist? Und vor allem: Wie dumm muss es sein, um seine Freiheit nicht zu erkennen? Freiheit ist also relativ, sinnierte ich. Allerdings gab ich es auf, das arme Tier weiter zu beobachten; zumal mir zunächst auch nicht einfiel, wie ich hätte helfen können. Das Huhn wäre ja vor mir davon gelaufen und dabei auch nicht in den Stall gelangt!

Am nächsten Tag dann dasselbe Spiel. Das Huhn läuft wie ein durch Hospitalismus geschädigtes Zootier am Zaun entlang – auf und ab … immer wieder … „Jetzt muss ich aber doch irgendetwas machen!“ ermahne ich mich. Und verlasse das Haus. Langsam schleiche ich mich an das Huhn heran, ohne eigentlich zu wissen, was das bringen soll und was ich tun kann, um zu helfen … Dem Huhn steht natürlich sofort die Panik in den Augen.

Gestresst sucht es einen Ausweg – einen Fluchtweg vor der Gefahr Mensch. Von Angst und in die Enge getrieben flattert es plötzlich hoch, landet auf dem Tor zum Stall, und flattert dann auf der anderen Seite des Zauns hinunter. „Du kannst ja fliegen! – Du dummes Huhn!“ rufe ich kopfschüttelnd, aber erleichtert aus. Franziska Lachnit (2016)

Kleiner Mann ganz groß

Hoch oben auf den Schultern des Großvaters fühlte es sich gut an. Die Welt sah anders aus und deshalb spannender. Der Großvater hatte ihn gerade vom Kindergarten abgeholt und trug ihn nun sicher heim.

Vor dem Haus kam ihnen die Mutter entgegen: „Ich muss noch mal los, um Plakate fürs Geschäft aufzuhängen“, begrüßte sie die beiden. „Soll ich bleiben, um auf die Kinder aufzupassen?“ fragte der Großvater. „Nein, das ist nicht nötig. Vielen Dank! Seine Schwester wartet schon, und die Kinder können für einen Augenblick alleine sein.“

Der Großvater brachte den Jungen in die Wohnung. Die Mutter machte sich auf den Weg. Als sie schließlich zurückkehrt und die Wohnung betritt, ruft sie begrüßend nach ihren Kindern. „Hallo Mama!“ entgegnet die Tochter. „Wo ist dein Bruder?“ fragt die Mutter leicht verunsichert, da er nicht antwortet. „Ach, der hat seine Jacke angezogen und ist in die Stadt gegangen, um dich zu suchen“ erwidert das Mädchen gedankenverloren.

Das Mutterherz stockt. Sofort verlässt sie wieder das Haus, um nach dem Kleinen zu suchen. „Ruhe bewahren! Nicht den Verstand verlieren!“ Sie vertraut darauf, dass der Junge sich allenfalls in der Fußgängerzone aufhalten wird. „Er würde ganz bestimmt nicht über die Kreuzung beim Kaiser‘s gehen!“ Während sie die Panik unterdrückend in dieser Richtung unterwegs ist, bemerkt sie im Augenwinkel etwas Kleines, Dunkelrotes.

Die Farbe kommt ihr vertraut vor: Da trottet ihr Sohn. Ohne ein Wort zu sagen, hat er sich ihr angeschlossen – wie selbstverständlich. Jetzt fällt nicht nur ein Stein vom Herzen, sondern eine gewaltige Lawine. Glücklich wie seit dem Tag seiner Geburt nicht mehr, nimmt sie den kleinen Mann in die Arme. „Wo warst du?“ fragt sie. „Ich habe in dem Hubschrauber gesessen und auf dich gewartet.“ – Franziska Lachnit (2017)

Spaziergang

Draußen verlockt nichts zu einem Spaziergang. Kälte beschlägt Fensterscheiben. Schornsteine blähen ihren Rauch in die Atmosphäre. Das Geäst der Bäume knistert unbehaglich im Frost. Nicht einmal die Macht der Sonne dringt durch die dichte Wolkendecke.

Es ist nebelig, feucht und ungemütlich. Aber drinnen fällt einem die Zimmerdecke auf den Kopf; die Luft ist trocken und riecht nach der letzten Mahlzeit. Ich muss raus! In Schichten umgebe ich mich mit einer Hülle aus Klamotten: Unterwäsche, Bluse, Strickjacke, Wollschal, Parka, Jeans, Socken und nochmal Socken, Stiefel und Handschuhe.

Mehr geht nicht, und mehr würde auch nicht helfen! Mein Atem legt sich als feuchte Nebelschwade über mein Gesicht und bleibt nass im Schal hängen. Jeder Schritt bedeutet eine Überwindung.

Ich lasse die griesgrämige Stadt hinter mir und erreiche das Rheinufer. Plötzlich ist alles anders: Die Landschaft – in verhaltene Pastellfarben getaucht – zieht mich heraus aus meinem Unbehagen, heraus aus der Kälte und hinein in ein Bild wie von Caspar David Friedrich gemalt: Brückenpfeiler standhaft im kalten Wasser, das spiegelglatt daliegt und den Aalschokker nur gemächlich hin- und herschaukelt.

Wie in Watte gepackt, liegen die Hügel ringsum. Am Flussufer hocken Enten, wärmend aufgeplustert und stoisch auf eine andere Jahreszeit wartend. Am Horizont steigt schwarz immer wieder ein Schwarm Stare auf. Es beginnt zu dämmern, und die Vögel suchen nach einem Schlafplatz. Kurz bevor die Sonne diesen Tag ganz im Stich lässt, lugt sie einmal zaghaft durch die tiefliegenden Wolken hindurch.

Als wäre ihr Licht ein farbgetränkter Pinsel, so leuchtet der Himmel zum ersten Mal an diesem Tag auf. Und ich denke: Vergib nicht, wenn der Tag vergeht, ohne dass die Sonne ihn erleuchtet! Heute kann ich vergeben. Franziska Lachnit (2016)