Waldabenteuer

Die erste Nacht in der Hütte war erholsam. Auch wenn Kati und Flo ab und zu ungewohnte Geräusche vernahmen und kurz aufschreckten, so schliefen sie immer wieder schnell ein. Am nächsten Morgen blinzelt die Sonne sehr früh ins Tal. Flo wacht natürlich als erster auf und weckt die anderen. „Papa! Heute beginnen unsere Abenteuer!“ Papa gähnt, streckt seine Glieder: „Ja, Flo! Das habe ich Dir versprochen!“ Mama mischt sich ein: „Jungs! Zuerst gibt es ein gutes Frühstück!“

Flo freut sich auf beides: Frühstück und Abenteuer. Kati kuschelt noch mit ihrem Teddy und mag nicht aus dem Schlafsack herauskriechen. Schließlich machen sich die „Jungs“ … oder sollte man sagen „Männer“? … auf den Weg. Flo führt Papa zum Bach, den er bereits gestern mit Kati entdeckt hatte. Papa stapft in seinen großen, gelben Gummistiefeln am Ufer entlang, durch den Bach hindurch und wieder zurück. Sie haben Stöcke gesammelt und Pläne für die nächsten Tage geschmiedet.

Jetzt sitzen sie auf der Veranda. Jeder hält einen Stock und schnitzt. Flo ist glücklich. Papa auch. Und sogar Mama, denn sie sitzt bei ihnen und liest einen Krimi. Was ist mit Kati? Nachdem auch sie endlich aus den Federn kam, schnappte sie Stifte und Papier, um Bilder zu malen – vom Wald. „Heute Abend machen wir ein Feuer!“, entscheidet Papa. „Ja! Super!“, rufen Flo und Kati. Mama hat natürlich Bedenken. Das Feuer wird gigantisch. Die Kinder tanzen einen Freudentanz. Mama hat Angst. „Wenn die Fichten Feuer fangen?“ – „Das wird nicht passieren!

Ich passe auf.“, sind Papas Worte dazu. In diesem Augenblick knallt es. Das Feuer spuckt unzählige Funken in die Höhe. Alle halten den Atem an. Doch dann lösen sich die glühenden Punkte auf oder sinken friedlich zu Boden. „Jetzt wird kein Holz mehr aufgelegt!“, bestimmt Mama, und langsam flackern die Flammen niedriger, bis sie zu roter Glut zusammensacken. Franziska Lachnit (2019)

Die Waldhütte

Gemütlich zuckelt der betagte R4 über den holperigen Waldweg. Das Auto ist vollgestopft wie bei jeder Urlaubsreise. Vater sitzt am Steuer, Mutter auf dem Beifahrersitz mit der Provianttasche zwischen den Füßen. Auf der Rückbank necken sich Bruder und Schwester vor lauter Ungeduld. Die Koffer füllen den hinteren Fußraum, so dass dort die Kinder eine tolle Lümmelfläche haben. Im Heck stapelt sich das restliche Gepäck bis unter das Autodach. Jetzt lenkt Papa für die letzten Meter in einen kleinen Pfad.

Und dort steht sie: Die Hütte. Mitten im Wald. Ohne fließendem Wasser. Ohne Strom. Ihr diesjähriges Feriendomizil. Das Abenteuer kann beginnen! Während Mama und Papa Koffer, Schlafsäcke, Taschen voller Spielzeug und Lebensmittel für eine ganze Woche in die Hütte verladen, stürmen Kati und Flo ins Unterholz des Waldes. Sie entdecken einen Bach, der sich plätschernd durch diese Idylle schlängelt. Flo strotzt vor Tatendrang und würde am liebsten sofort alle Abenteuer erleben: Auf Bäume klettern, Feuer machen, auf die Pirsch gehen … aber Kati möchte sich erstmal die Hütte anschauen.

Auf dem Weg dorthin, werfen sie einen prüfenden Blick ins Klohäuschen, das – zum Glück – in gebührendem Abstand zur Hütte steht. „Hier stinkt’s!“ Beide rümpfen die Nase. Dann kehren sie zurück zu ihren Eltern, die sich inzwischen auf der Veranda niedergelassen haben. Dort brennt eine Petroleumlampe, denn die Dämmerung fällt bereits ins Tal. „Papa, bauen wir morgen ein Baumhaus?“, drängelt Flo. „Mal sehen!“ Papa grinst und nimmt einen Schluck von seinem Bier. Auch er möchte sich sofort ins Abenteuer stürzen. Aber der Abend bricht an. Der Wald wird stockdunkel. Alle haben Hunger und sind eigentlich ziemlich müde. „Morgen, wenn die Sonne wieder ins Tal blinzelt, dann soll unser Abenteuerurlaub richtig losgehen!“, verspricht Papa. Franziska Lachnit (2019)

Heimweh

1945. Der Krieg war endlich zu Ende. Aber nun mussten wir unsere Heimat verlassen, wenn wir nicht einen anderen Krieg oder gar die Hölle erleben wollten. Mutter veranlasste uns, die Koffer zu packen  – schnell und nur mit dem Notwendigsten. Großmutter legte in ihrer Verwirrung drei rohe Eier hinein. Meine ältere Schwester und ich, wir gaben uns alle Mühe, Mutter zu unterstützen. Unser kleiner Bruder war erst vier Jahre alt.

Er verstand nicht, was damals passierte und dass wir nie wieder zurückkehren würden. Für ihn war unsere Flucht ein Abenteuer. Für Großmutter lag das alles bereits außerhalb ihrer Realität. Und unsere Mutter übertraf sich selbst in ihrem Überlebensinstinkt. Sie brachte uns alle in Sicherheit. Wie hatte diese verwöhnte Dame das bloß geschafft? Alles wurde gut: Vater kehrte aus der Gefangenschaft zurück. Die Familie war vereint. Und schließlich baute Vater ein neues Zuhause für uns. Ich ging wieder zur Schule und in den Sportverein, wie jedes andere Mädchen. Ich machte eine Ausbildung.

Hatte eine gute Arbeitsstelle in der Großstadt. Ich stand auf eigenen Füßen! Männer spielten keine große Rolle in meinem Leben, bis plötzlich ein langjähriger Brieffreund aus Italien vor der Tür stand. Wir heirateten. Ich zog mit ihm in seine Heimat. Ich lernte seine Sprache. Ich arrangierte mich mit seiner „famiglia“. Und wurde im Laufe der Jahre schrecklich unglücklich.

Jetzt bin ich sehr alt. Ich habe beinahe alles vergessen und erkenne die Menschen um mich herum nicht mehr. Ich weiß meistens nicht, wo ich bin. Für mich gibt es nur noch wage Erinnerungen … an meine Kindheit, an Vater und Mutter … an mein Zuhause. „Vater, wo bist Du?“ – „Mutter! Mutter“ – „Ich will nach Hause!“ – Hier bin ich. In der Fremde. Allein. Und ich will einfach nur nach Hause! Franziska Lachnit (2019)

Philosophischer Abend

„Endlich wieder Urlaub“, und direkt am ersten Abend begibt er sich früh in seine Stammkneipe. „Vielleicht treffe ich ein paar bekannte Gesichter und kann ein bisschen quatschen?“, hofft er. Anfangs ist er jedoch der einzige Gast. Der Wirt stellt ihm ohne Aufforderung das erste Kölsch auf die Theke. Er spült es in einem Zug hinunter. Wunderbar! Sofort bestellt er ein weiteres.

Dann tritt er vor die Tür, um eine Zigarette zu rauchen. Das Smartphone in der rechten Hand, die Zigarette in der linken, lehnt er lässig an der Laterne und schielt auf die Passanten. „Ist gar kein Bekannter in Sicht?“ Ein Pärchen schlendert Hand in Hand heran und öffnet tatsächlich die Tür zur Kneipe. Leider kennt er die beiden nicht. Hinter ihnen betritt auch er wieder den Schankraum, um sich über sein Kölsch herzumachen. Das Glas ist noch nicht leer, da stellt ihm der Wirt wortlos das dritte Bier vor die Nase. „Bei der nächsten Runde bitte ein Großes!“, fordert er freundlich.

Langsam füllt sich das Lokal mit Gästen. Jeder von ihnen ist in Begleitung. Manche kommen zu zweit, manche in Gruppen. Noch immer kennt er niemanden. Nach ein paar weiteren Zigaretten vor der Tür und dem, wer weiß wievielten, großen Kölsch entdeckt er endlich ein paar alte Bekannte. Ohne zu zögern, schnappt er sich sein Glas und steuert schwankend auf das Grüppchen zu.

„Hallo Leute! Lange nicht gesehen!“ … Er nimmt unaufgefordert Platz. Schleppend tastet man sich über die Zeit hinweg, in der man sich aus den Augen verloren hatte. Doch dann werden Schluck für Schluck Themen wie Geschichte, Wirtschaft, Bildung, Umwelt vertieft. Zunehmend berauscht vom Alkohol erreicht die Diskussion schließlich eine Ebene, dass Außenstehende den Eindruck bekommen, Platon, Nietzsche, Sloterdijk & Co. befänden sich in regem Austausch. Große Philosophen – endlich vereint an einem Tisch! Franziska Lachnit (2019)

Ein Tag wie jeder andere

Rudi begibt sich früh auf den Weg in die Stadt. Er möchte am Café ankommen, wenn es öffnet. Nachdem ihn um sieben Uhr die kläffenden Hunde des Nachbarn geweckt hatten, stand er auf und schlurfte noch recht verschlafen ins Badezimmer. Nach der warmen Dusche und dem ersten Kaffee fühlte er sich bereits wach genug, um gegen halb neun die Wohnung zu verlassen.

Er erwischt den Bus um 8.35 Uhr, der ihn in die Innenstadt bringt. Dann steht er zehn Minuten zu früh vor dem Café, das erst um neun Uhr seine Pforten öffnet. Rudi macht das Warten nichts aus. Er wartet sowieso immer. Den ganzen Tag. Jahr um Jahr. Sein Leben lang. Und zwar wartet er auf eine Frau. Die richtige Frau! – Rudis Aussehen offenbart, dass er schon eine Menge durchgemacht hat: Fahles, schütteres und wirres Haar, Tränensäcke unter den blassen Augen und ein schmuddeliger Dreitagebart zeigen nicht seine beste Seite. Auch die schlaffen Arme und der ungesunde Schwabbelbauch ziehen nicht die Blicke attraktiver Damen auf ihn. Doch eines kann Rudi richtig gut: Reden.

Er quatscht einfach eine Lady an und verwickelt sie in ein Gespräch. Die meisten der Damen lassen sich auf diese Weise eine Menge ihrer Lebensgeschichte entlocken und finden Rudi gar nicht so übel. Aber dann taucht eine Freundin auf, mit der Rudis Zufallsbekanntschaft verabredet war. Bestenfalls!

Schlimmstenfalls ist es der Lebensgefährte der Dame oder ein Blind Date. Rudi gibt alles. Ist witzig und charmant. Und trotzdem werden seine Bemühungen immer unterbrochen. Nie kommt er ans Ziel. Wenn er nur einmal eine nette Frau zu einem weiteren Treffen überzeugen könnte! Dann … ja, dann hätte er sicher gute Chancen! – denkt er. Auch heute betritt er wieder hoffnungsvoll gestimmt das Café … um einen Tag wie jeden anderen zu erleben. Franziska Lachnit (2019)

Sonniger Sonntag

Ein herrlicher Wintertag. Endlich. Denn endlos erschienen die Tage, die sich in einheitliches Grau hüllten und immer schon morgens zum Abend wurden. Licht gab’s nur elektrisch oder für den Romantiker bei Kerzenschein. Heute aber begrüßt uns die Sonne mit einem schmunzelnden „Hallo! Ich bin noch da!“ und erleuchtet diesen Sonntag.

Das weckt die Geister, die sich längst dem Winterschlaf hingegeben hatten. Raus aus dem Bett! Kaffee und gebutterte Brötchen mit Himbeermarmelade. Dann warm anziehen – das Thermometer widersetzt sich dem äußeren Anschein: Auch wenn die Sonne strahlt, ist es klirrend kalt. In die Winterrüstung gehüllt trete ich vor die Tür. Ziehe diese kräftig zu, atme tief durch und fühle mich wie ein Häftling, der endlich sein Gefängnis verlassen kann. Freiheit! –Doch ich begehe einen Fehler und spaziere nach Rhöndorf.

Der Weg erfreut noch meine Sinne: Kahle Baumkronen zeichnen mit ihrem Geäst Bilder an den blauen Himmel. Traumhafte Häuser säumen die Straße. Aus manchen weht bereits der Duft von Bratensoße und anderen Köstlichkeiten des Sonntagsmahls. Kirchenglocken bimmeln. „Schön ist es in unserem Städtchen!“ Aber als ich durch das friedliche Gässchen – rechts die gackernden Hühner von Frau Koch sowie die freundlich kläffenden Hunde von Herrn Koch – auf die Löwenburgstraße gelange, erkenne ich meinen Fehltritt.

Hier ist die Hölle los! Menschenströme von rechts nach links und umgekehrt. Irrfahrende Autos auf der Suche nach dem perfekten Parkplatz – möglichst direkt vor Herrn Adenauers Grab. Vom Blitz der Erkenntnis getroffen bleibe ich stehen. Und jetzt? Soll ich mich durch die Besucher kämpfen, um bei Peter ein Stück herrlicher Torte zu ergattern? Oder ergreife ich die Flucht durch den Wald? Schließlich ziehe ich meinen Kopf tief zwischen die Schultern und beeile mich, den Rhein zu erreichen, um in ruhigere Gefilde und wieder nach Hause zu gelangen. Franziska Lachnit (2019)

Die Doppelgängerin

Wie konnte sie ihrem Stil dermaßen untreu werden? Verlottert, ungeschminkt, mit abgetragenen Klamotten und zerzauster Frisur erscheint sie am Flughafen, um nach Deutschland zu fliegen. Ihre Haare sind leicht rötlich statt tief schwarz, ebenso gelockt – aber nicht mit Gel gestylt. Ihre Augen sind blass – beinahe wässrig, nicht von dunkler Intensität. Doch der Blick ist wie eh und je arrogant und vor allem distanziert. Die Haut wirkt fahl und trocken. Hatte sie nicht immer eine hitzige Röte im Gesicht? Und ein paar Schweißperlen auf Stirn und Hals?

Ihre Nase stippt unpassend zierlich und keck aus dem sonst konturlosen Gesicht. Darunter ziehen die dünnen Lippen eine gerade, strenge Linie. Nur, wenn ihr etwas missfällt, verändert sich diese Linie: Entweder bringt sie ein bedauernswertes Halblächeln hervor oder sie zieht verächtlich, aber kaum sichtbar die Mundwinkel nach unten. Doch zu farblos sind nun diese Lippen. Im Gegensatz dazu erscheint ihre Kleidung zu bunt. Und zu billig. Sie trägt eigentlich immer Schwarz-Weiß und Stoffe bester Qualität, oft maßgeschneidert. Jetzt hat sie sich in einen Farbtopf der Willkür geworfen – offenbar bei Woolworth.

Pastellig-melierter Mantel aus Kunstfaser. Flauschiger, mit bunten Glitzerfäden durchwobener Pullover. Eine herkömmliche Jeans, die unvorteilhaft die Oberschenkel umspannt. Und ihr Accessoire erübrigt jede Frage zum guten Geschmack. Ist sie noch sie selbst? Sie greift den Plastikbecher mit Cola in derselben Haltung wie ein Glas edlen Scotchs. Sie kaut mit derselben Missachtung den staubigen Apple-Cake wie sonst rohes Gemüse. Sie knabbert mit der ihr eigenen Fingerhaltung an den Nägeln. Sie muss es sein! Wenn auch so verändert. Oder ist es eine Schwester? Vielleicht sogar eine geheime Zwillingsschwester? Oder ist es doch nur der Doppelgänger, den jeder irgendwo auf der Welt hat? Franziska Lachnit (2019)

Hinter verschlossener Tür

Da las ich früher „Lukullus“, die wöchentliche Metzgerzeitung. Eigentlich las ich nur das Horoskop und erklärte es für die einzig wahre Weissagung. Alle anderen Horoskope waren bedeutungslos. Ich las auch in der „Prisma“. Und zwar das kleine Mickey-Mouse-Comic auf der ersten Seite, den Kurzkrimi sowie selbstverständlich das Fernsehprogramm des aktuellen Tages. Als es an der Zeit war, sich mit ernsthafteren Themen zu beschäftigen, kamen die gesammelten Gedichte Eduard Mörikes zur täglichen Lektüre hinzu.

In Absprache mit meinem Vater lernten wir ein paar davon auswendig. Stets jeder für sich, hinter verschlossener Tür. Manchmal suchte ich ein Werk eines anderen Dichters aus, schrieb es ab und pinnte es an die Wand, damit wir auch dieses lernen konnten. Die intellektuelle Krönung meiner Lektüre wurde schließlich Emmanuel Kant: Grundlagen zur Metaphysik der Sitten. Ein unscheinbares gelbes Reclam-Heftchen mit undurchdringlichem Inhalt. Selbst mein späterer Philosophielehrer konnte meinem Geist keinen Weg dafür bahnen. Und so musste ich zur Lockerung meines Hirns und anderer Organe gelegentlich nochmal ein Horoskop oder einen Kurzkrimi dazwischenschalten.

Irgendwann haben wir Kant, den Unergründlichen, durch Joseph von Eichendorff ersetzt. Logik gegen Romantik. Kopf gegen Herz. Das war auf jeden Fall wohltuend für meine Seele und meinen Körper! Dann zog ich von Zuhause aus. Damit veränderten sich meine Lesegewohnheiten hinter der verschlossenen Tür: Ich blätterte lieber Kataloge schwedischer Einrichtungs- oder Modehäuser.

Doch inzwischen habe ich eine neue intellektuelle Herausforderung entdeckt: Ein verdrehter Kleinkünstler erzählt von seinen Erlebnissen mit einem kommunistischen Känguru. Äh?! Was? – Genau! Aber diese Stories übertreffen alles, was ich zuvor am stillen Örtchen gelesen habe und bringen sowohl Geist als auch Körper in wohltuenden Schwung. Franziska Lachnit (2019)

Eigene Wege

Er war fünf Jahre alt, als er zum ersten Mal seine Familie verließ. In ein kleines – mit Märchenfiguren bedrucktes – Taschentuch hatte er ein paar Süßigkeiten gepackt und das Tüchlein an einen Stock geknotet. Diesen Stock schulterte er und verließ das hölzerne, in den Dünen gelegene Ferienhaus. Mit energischem Gummistiefel-Schritt entfernte er sich durch das Heidekraut. Meter um Meter. Immer weiter.

Mama und Papa schauten ungläubig aus dem Fenster und erwarteten jeden Augenblick seine Umkehr. Doch er kehrte nicht um. Er wanderte hinaus aus ihrem Blickfeld und verkroch sich irgendwo in der blühenden Erika. Den Eltern fiel es schwer, ruhig zu bleiben und keine Sorge aufkommen zu lassen. Die Sonne senkte sich schließlich im Westen auf den Horizont zu und färbte den herannahenden Abend in blutiges Orange.

Noch immer war er nicht zurückgekehrt. Jetzt zog der Papa los, um seinen Sohn zurück zu holen. Erleichtert öffnete die Mama die Tür und ließ die Beiden hinein ins gemütliche Häuschen. Diesen ungeheuerlichen Mut, das elterliche Haus zu verlassen und eigene Wege zu gehen, brachte er in den darauffolgenden Jahren nicht mehr auf. Stattdessen verschanzte er sich und schürte im Inneren seine unfassbaren Ängste – solange bis deren Glut nicht mehr zu löschen war und jeder Weg zu einer Sackgasse wurde.

Wenn er sich jetzt noch retten wollte, müsste er springen! Wieder schnürte er ein Päckchen – diesmal gefüllt mit Dosenbier und Zigaretten – und begab sich zur höchsten Brücke weit und breit. Diesmal sollte es ein endgültiger Abschied sein! Der Papa wusste nichts. Konnte ihn nicht nach Hause holen. Es war ein Freund, der im letzten Augenblick in die Dunkelheit kam, um ihn an die Hand zu nehmen und aus dieser Sackgasse herauszuführen. Jetzt stiefelt er – mal ängstlich, mal zuversichtlich – auf seinem Weg, der ihn in die Ferne führt. Und niemals zurück! Franziska Lachnit (2019)

„Alles, was man liebt

wird zu einer Geschichte.“ Den Satz leihe ich mir von meiner derzeitig favorisierten Autorin. Und da ich meine Kindheit und Jugend liebe, könnte ich zahlreiche Geschichten darüber erzählen. Der zärtliche Schneefall heute Morgen versetzte mich wieder in einen Moment dieser Zeit: Weihnachtsferien vor ungefähr 33 Jahren. Es hatte mächtig geschneit. So viel, dass sogar die Ferien wegen ungewohnter Verkehrsverhältnisse verlängert wurden. Jeden Abend saß ich mit einem Kumpel vor dem Radio, um zu hören, wie es am nächsten Tag sein sollte. Wieder schulfrei! Hurra!

Dann können wir morgen Schlitten fahren – jubelten wir. Allerdings würden wir nicht bei Tageslicht zu einem nahegelegenen Hügel stapfen, sondern in der Dämmerung des frühen Abends zur Rodelpiste fahren, die einige Kilometer entfernt war. Wir trafen uns im gelben Licht der winterlichen Straßenlaternen. Unsere Schlitten banden wir mit ihren Seilen an die Gepäckträger der Fahrräder. Dann radelten wir los. Durch Schneematsch und herabfallender Dunkelheit. Der Dynamo kapitulierte, und der Schlitten im Schlepptau schlingerte bedrohlich von rechts nach links und umgekehrt. Jedes vorbeikommende Auto war eine Gefahr für uns.

Und jeder Autofahrer musste seinerseits diese Radfahrer mit den schlabberigen Schlittenanhängern als Gefahr empfunden haben. Als wir endlich unser Ziel erreichten, konnten wir im Schwarz des Abends die Rodelpiste nicht finden. Mit jugendlicher Entschlossenheit bestimmten wir unsere eigene Rodelstrecke. Das hätte schief gehen können. Doch es wurde zu einem besonderen Erlebnis. Wir rutschen auf den Schlitten in die Finsternis, umschifften blind ein paar Bäumchen, landeten letztendlich heil in einem Irgendwo. Hui! Noch ein paar weitere Abfahrten. Danach schlingerten wir auf den Fahrrädern, die Schlitten wieder im Schlepptau, über schneematschige Straßen zurück ins warme, kerzenerleuchtete Heim. Franziska Lachnit (2018)