Blauer Koffer

Der kleine blaue Koffer steht zerbeult und ein wenig verstaubt auf dem Schrank. Dieser Koffer begleitet einen nicht auf Reisen durch Länder und über Kontinente, sondern nimmt mich mit auf Reisen in die Vergangenheit. Ich hatte den kleinen Koffer bereits bevor ich in die Schule ging. Offenbar erschien mir das Zur-Schule-Gehen damals als sehr erstrebenswert, so dass ich zu Hause im Wohnzimmer auf dem Sofa sitzend Schule spielte. Ganz allein. Der Koffer diente als Schultasche. Darin bewahrte ich Stifte, Hefte und irgendwelche Bücher auf. Um das Schulerlebnis möglichst echt wirken zu lassen, sollte meine Mutter jeden Morgen einen geviertelten Apfel in Frischhaltefolie wickeln, den ich als „Pausenmahlzeit“ einpackte. Ich hatte beobachtet, dass meine ältere Freundin genauso einen Apfel immer mit zur Schule nahm; vielmehr brachte sie ihn wieder mit nach Hause und futterte ihn erst am Nachmittag. Ich weiß noch, wie stolz ich auf Köfferchen und Apfel war. In einer anderen Erinnerung hatte der kleine blaue Koffer vorübergehend den Besitzer gewechselt: Mein Bruder, gerade mal 2 Jahre alt, spazierte mit ihm in der Hand und einer Puppe – beinahe so groß wie er selbst – im Arm durch die Wohnung. Das schien ihm große Freude zu bereiten, denn diese Spaziergänge unternahm er häufig und stets mit strahlendem Lachen. Später diente der Koffer als Aufbewahrung für Puppenkleider und verschwand für viele Jahre im Schrank. Kürzlich entdeckte ich ihn wieder. Ab und zu hatte ich offenbar die Schätze, die ich darin verbarg, ausgetauscht oder ergänzt. Inzwischen beherbergt der kleine blaue Koffer nicht nur die letzten Erinnerungsstücke meiner Kindheit, sondern auch einige Teile Babyspielzeugs meiner – mittlerweile selbst erwachsenen – Kinder. Und jedes Mal, wenn ich nun einen Blick in den alten Koffer werfe, bekomme ich eine schöne Erinnerung geschenkt. Franziska Lachnit (2020)

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