Gedanken zum Abschied

Hien Anh hat ihre beste Freundin verloren. Ganz plötzlich. Ein Autounfall. Morgen findet die Trauerfeier statt. In der Kirche. Die Familie der Freundin hat sich für eine Urnenbestattung entschieden. Hier in Deutschland weiß jeder damit umzugehen, aber für Hien Anh ist dieses Ritual ungewöhnlich. In ihrem Heimatland Vietnam werden Verstorbene ganz anders zur letzten Ruhe gebettet. Hien Anh, vertieft in ihrem Abschiedsschmerz, begibt sich auf Gedankenreise: „Meine Ahnen wurden begraben. Und nach 3 bis 4 Jahren haben wir ihre Knochen herausgehoben, um diese gründlich mit Reisschnaps zu reinigen. Jeden einzelnen Knochen. Dann legten wir die Knochen in Tongefäße. Diese ruhen nun in kleinen Tempeln auf dem Reisfeld meiner Familie. Wann wir dieses Ritual durchzuführen hatten, bestimmte ein Wahrsager, denn er wusste, wann die Toten bereit waren für diese Zeremonie. Wir glauben, dass durch die Reinigung und den Umzug die Dämonen keinen zerstörerischen Zugriff auf die Seele des Toten haben.“ – Hien Anh denkt an ihre Freundin: „Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen? Es war ein herzlicher und fröhlicher Abschied! Sie winkte mir lachend zu …“ Jetzt überlegt Hien Anh: „Morgen gehe ich also zu der Trauerfeier. Was werde ich empfinden?“ – „Wünsche ich mir und ihr eine langjährige Zeremonie wie zuhause in Vietnam? Oder bin ich erleichtert, die Momente der Trauer durch die baldige Einäscherung und Bestattung schneller verarbeiten zu können?“ – „Ich weiß, dass ich meine Freundin niemals vergessen werde! Und ich fühle, dass es mir guttut, zu wissen, dass sie jetzt der Erde übergeben wird. Und vor allem, dass dann ihre Seele unmittelbar und in aller Ruhe dahingleiten kann … Ich wünsche mir einen Abschied. Jetzt.“ Franziska Lachnit (2020)

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