Großmutters Monolog

„Ach Herrje! Wo bin ich nur? Ist das hier etwa mein Zimmer? So eng? Und sitzen kann man nur auf der Toilette. Hier ist nicht mal Platz für ein Bett. Also sitze ich auf der Toilette und beschäftige mich damit, Toilettenpapier Blatt für Blatt oder viele Blätter zusammengeknüllt in die Kloschüssel zu werfen. Von unten aus dem Wohnzimmer dringen wieder diese unbekannten Stimmen herauf. Der Vater hat schon wieder Besuch, von dem er mir nichts gesagt hat. Nie sagt er mir etwas! Und dann gehe ich immer auf die Toilette, um mich zu verstecken. Vielleicht sollte ich jetzt besser den Sohn anrufen, um ihm von den fremden Leuten zu erzählen. Aber wo ist das Telefon? Ich glaube, ich sehe doch mal nach, wer da gekommen ist.

Alles tut weh. Schon wieder blaue Flecken an Armen und Beinen. Ich liege im Bett. Habe keine Ahnung, wie ich hierhergekommen bin. Ich weiß auch nicht, ob es Tag oder Nacht ist. Der Rollladen ist geschlossen. Es ist dunkel und ich kann die Uhrzeit auf dem Wecker nicht erkennen. Wollte ich nicht hinunter ins Wohnzimmer gehen, um Vaters Besuch zu begrüßen? Oder wollte ich auf die Toilette? Oder wollte ich den Sohn anrufen?

Jetzt bleibe ich erstmal hier – in meinem Bett. Geborgen und ruhig fühlt es sich an. Außer wenn auf der Straße ein Lastwagen um die Kurve donnert und sich dabei so aufdrängt, als würde er das Haus halbieren. Ich liege da. Neben mir an der Wand hängt ein Bild von Jan Vermeer. Schön ist es. Eine Frau mit dickem Bauch; sie erwartet ein Kind. Ein Kind – das hatte ich auch. Drei Kinder habe ich. Wo sind sie? Ich habe einen Sohn. Ich muss ihn anrufen: Sein Vater hat Besuch. Unbekannte Leute. Stimmen, die ich nicht kenne …“ Franziska Lachnit (2017)

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