Hinter verschlossener Tür

Da las ich früher „Lukullus“, die wöchentliche Metzgerzeitung. Eigentlich las ich nur das Horoskop und erklärte es für die einzig wahre Weissagung. Alle anderen Horoskope waren bedeutungslos. Ich las auch in der „Prisma“. Und zwar das kleine Mickey-Mouse-Comic auf der ersten Seite, den Kurzkrimi sowie selbstverständlich das Fernsehprogramm des aktuellen Tages. Als es an der Zeit war, sich mit ernsthafteren Themen zu beschäftigen, kamen die gesammelten Gedichte Eduard Mörikes zur täglichen Lektüre hinzu.

In Absprache mit meinem Vater lernten wir ein paar davon auswendig. Stets jeder für sich, hinter verschlossener Tür. Manchmal suchte ich ein Werk eines anderen Dichters aus, schrieb es ab und pinnte es an die Wand, damit wir auch dieses lernen konnten. Die intellektuelle Krönung meiner Lektüre wurde schließlich Emmanuel Kant: Grundlagen zur Metaphysik der Sitten. Ein unscheinbares gelbes Reclam-Heftchen mit undurchdringlichem Inhalt. Selbst mein späterer Philosophielehrer konnte meinem Geist keinen Weg dafür bahnen. Und so musste ich zur Lockerung meines Hirns und anderer Organe gelegentlich nochmal ein Horoskop oder einen Kurzkrimi dazwischenschalten.

Irgendwann haben wir Kant, den Unergründlichen, durch Joseph von Eichendorff ersetzt. Logik gegen Romantik. Kopf gegen Herz. Das war auf jeden Fall wohltuend für meine Seele und meinen Körper! Dann zog ich von Zuhause aus. Damit veränderten sich meine Lesegewohnheiten hinter der verschlossenen Tür: Ich blätterte lieber Kataloge schwedischer Einrichtungs- oder Modehäuser.

Doch inzwischen habe ich eine neue intellektuelle Herausforderung entdeckt: Ein verdrehter Kleinkünstler erzählt von seinen Erlebnissen mit einem kommunistischen Känguru. Äh?! Was? – Genau! Aber diese Stories übertreffen alles, was ich zuvor am stillen Örtchen gelesen habe und bringen sowohl Geist als auch Körper in wohltuenden Schwung. Franziska Lachnit (2019)

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