Napoleon und ich

(Knaus Verlag, 2006). Bei dieser Idee war wohl eine Menge Wodka im Spiel! Sylvain Tesson, waschechter Franzose mit tiefer Zuneigung für die Seele Russlands, überredet seinen Kumpel: „Im Dezember dieses Jahres sind wir, du und ich, doch auf der Moskauer Buchmesse. Warum nicht mit dem Motorrad mit dem Beiwagen zurückfahren? Auf einer schönen russischen Ural. Du sitzt im Körbchen im Warmen und kannst den ganzen Tag lesen. Ich steuere die Maschine. Wir starten auf dem Roten Platz, fahren immer westwärts geradeaus (…)“. Tesson ist plötzlich davon besessen, den Rückzug der Grande Armée Napoleons von Moskau nach Paris nachzuerleben. Ein wahrhaft kühnes Vorhaben zum Gedenken der „glücklosen Soldaten“ des gescheiterten Kaisers! Der Kumpel schlägt ein. Am Abend der Buchmesse, im Kreis zahlreicher Freunde trägt Tesson bereits „eine Replik der kaiserlichen Kopfbedeckung, jener, die man auch in Irrenanstalten findet und die (er) während (seines) Feldzuges nicht mehr absetzen wollte.“ – „Dank des Zweispitzes würde durch eine geheimnisvolle alchimistische Perkolation vielleicht ein wenig vom Genie des Kaisers in mich einsickern.“ Wieder so eine kühne, vom Wodka durchtränkte Idee? Schließlich begeben sich die beiden Freunde sogar gemeinsam mit einem weiteren Franzosen sowie zwei Russen auf die Tour. „Im Abstand von zwei Jahrhunderten hatten wir anderthalb Monate Verspätung. Die Grande Armée verließ Moskau am 19. Oktober 1812. Sie zählte nur noch hunderttausend Mann. Zum ersten Mal kamen dem Kaiser unter seinem Zweispitz Zweifel.“ Tesson und seine Freunde hatten vielleicht auch Zweifel, aber sie zogen das Ding durch: „(…) täglich 500 km durch Kälte und Schlamm auf gefrorenen Straßen (…) Den klimatischen Bedingungen begegneten sie mit slawischer Gleichgültigkeit, den Peitschenhieben des Himmels mit der Dreistigkeit russischer Alpinisten.“ Es findet im wahrsten Sinne des Wortes ein Feldzug statt. „Von Blechschaden-Visionen verfolgt“ steuert Tesson das betagte Motorrad mit Beiwagen durch Schnee und Glatteis. Von LKWs bis an den Rand der Straßengräben gedrängt. Von Minusgraden bis an den Erfrierungstod geführt. Und immer wieder bringt uns Tesson in Rückblicken zu Napoleon und den Soldaten, die sich ebendieser Strecke zu Fuß, ausgehungert, verletzt und krank stellen mussten … des Überlebens willen. Wir verfolgen gemeinsam mit Tesson sowohl eine spektakuläre Reise in der Gegenwart als auch einen aufschlussreichen Trip in die Vergangenheit. „Vierter Tag. Von Smolensk nach Borissow. An jenem Morgen als die Sonne über den Festungsmauern von Smolensk stand wie eine Deckenlampe in einem Badezimmer aus der Chruschtschow-Zeit, sollte sich unsere Lage verbessern. (…) Eine leichte Erwärmung hatte eingesetzt. Alles war stumpf und lau. Die Welt war eine Tuschezeichnung mit Schlieren von den Rauchsäulen der Bauernhöfe. Wir fuhren geradeaus in den Sonnenuntergang. (…) Dort, auf der weißrussischen Ebene, erlebte die Grande Armée ihr Martyrium.“ Ein solches erfahren Tesson und seine Kumpel nicht, aber sie kämpfen sich von Panne zu Panne und von Kilometer zu Kilometer – stets durch Minusgrade und vereiste oder schneeverschmierte Straßen. Eine Vergnügungsreise ist ihr Feldzug nicht. Ein warmes Bett, eine heiße Kohlsuppe und literweise Wodka lassen die Männer nach der täglichen Tortur immerhin wieder auferstehen. Ganz im Gegenteil zu Napoleons Gefolge. Hunger und Kälte dezimieren die sowieso nicht mehr große Grande Armée auf ihrem Rückzug Tag für Tag. Als die motorisierte Truppe Tessons am 13. Tag in Paris vor dem Invalidendom, wo Napoleon Bonaparte zur ewigen Ruhe gebettet ist, den Endspurt absolviert, lesen wir folgendes: „Die goldene Kuppel glänzte. (…) Wir spalteten eine Gruppe Touristen. Die Japaner machten große Augen. Die Gendarmen hinter den Absperrungen traten zur Seite. Unsere kleine Kolonne aus Ural-Radikalinski-Napoleonisten (…) fuhr auf den gepflasterten Hof. (…) Ich hatte das Gefühl, aus einem viertausend Kilometer langen Traum aufzuwachen.“ Franziska Lachnit (2020)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert