Kinderbuch

Welches war dein schönstes Kinderbuch? Auf diese Frage kann sicher der ein oder andere sofort antworten. Ich musste erst darüber nachdenken. Meine Erinnerung kramte Bücher wie Oh, wie schön ist Panama, Krieg der Knöpfe oder Karlsson vom Dach hervor. Aber diese Bücher hatte ich tatsächlich erst als Erwachsener gelesen. Als Kind las ich eigentlich nicht. Mir wurde vorgelesen. Von Mama, die das gut konnte. Aber da sie sowieso schon so viel für uns Kinder tat, hatte sie wenig Zeit zum Vorlesen. Wenn Papa vorlas, war es eine Tortur. Nicht, dass er nicht lesen konnte! Immerhin war er Lehrer! Allerdings meinte er offenbar, dass die Texte, z.B. die Märchen der Gebrüder Grimm, nicht kindgerecht waren. Da kam wohl der Lehrer in ihm zum Durchbruch! Stets hielt er während des Vorlesens inne, um im Stillen die geschriebenen Sätze umzuformulieren. Dass diese dann nicht mehr so schön waren und wir Kinder uns in den Denkpausen beinahe zu Tode langweilten, bemerkte er nicht. Die Spannung war jedenfalls ein für alle Mal futsch. Mit Papa tobten wir also lieber vor dem Zubettgehen, als dass wir eine Geschichte von ihm hören wollten. Der beste Vorleser aller Zeiten (meiner Kindheit) war mein Opa. Ihm zu lauschen war ein köstliches Vergnügen! Köstlich auch, weil wir meistens von Oma eine Leckerei vorgesetzt bekamen. Wir saßen am Tisch im Esszimmer: Mein Bruder und ich nebeneinander und Opa uns gegenüber. Mein Bruder und ich mampften die zuckerig-saftigen Berliner von Oma. Opa hielt ein Buch in den Händen und las laut. Sein schlesischer Akzent sowie seine charakteristisch kraftvolle Stimme belebten jeden müden Text. Er las Die kleine Hexe, Das kleine Gespenst und … Der Räuber Hotzenplotz. DAS war mein schönstes Kinderbuch! Wenn Opa es las, erwachte jede Figur zum Leben. Der Geruch von Bratwurst und Sauerkraut verankerte sich in meiner Nase. Die Kaffeemühlen-Melodie Alles neu, macht der Mai leierte in meinen Ohren. Und eine hässliche Unke verwandelte sich vor meinen Augen zur schönen Fee Amaryllis. Wenn man mich nach meinem schönsten Kindheitserlebnis fragen würde, dann könnte ich jedenfalls sofort antworten. Franziska Lachnit (2020)

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