Maibaum

Da war einmal ein Maibaum. Er hatte einen mächtigen Stamm, glatt geschält prahlte er mit seinem hölzernen Fleisch. Hoch oben war er geschmückt mit einem dichten Kranz aus Tannenzweigen, verziert mit Bändern. Bunt hoben sie sich vom blauen Mai-Himmel ab und tanzten fröhlich im Wind. Zuverlässig herrschte er jedes Jahr für einen Monat über den Marktplatz. Jeder, der vorbei kam, hob seinen Blick, um zu sehen, wie weit der große Maibaum in den Himmel ragte.

Und jeder freute sich über die Kraft und Freude, die er ausstrahlte. Niemals hätte jemand damit gerechnet, dass dieser stolze Maibaum eines Jahres nicht mehr errichtet werden könnte! Nie! – Bis zu diesem Jahr. Wer den Blick heute hebt, schaut in eine leere Weite des Himmels. Verdutzt und ein bisschen erschrocken senkt man den Blick wieder. Und wer dann genau hinsieht, entdeckt IHN – den „Maibaum des Erbarmens“.

Er hat sich in einem Anflug von ein bisschen Ehrgeiz und viel Mitleid dazu hinreißen lassen, den Alten zu vertreten oder sogar zu ersetzen. In seinem jugendlichen Eifer hat er sich aufstellen und nett schmücken lassen. Noch ist er zu jung, um behobelt und mit schweren Kränzen behängt zu werden. Kaum größer als der Pfahl des Straßenschildes, an dem er befestigt wurde, ragt er noch lange nicht in den Himmel, welcher in diesem Jahr auch nur mitleidig und grau dreinschaut.

Aufmunternd tröpfeln die Regentropfen auf den jungen Baum. Doch da dieser entwurzelt wurde, kann kein Wasser, kein zukünftiger Sonnenschein ihn zu dem großen und würdigen Maibaum machen, der er gerne sein möchte. Allein sein Erbarmen mit den Menschen, die sonst ohne Maibaum geblieben wären, verleiht ihm Größe und seine ganz besondere Würde. Franziska Lachnit (2017)

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