In die Ferne träumen

Reiseträume lassen sich im Augenblick nicht in die Tat umsetzen. Deshalb möchte ich Fernweh-geplagte Leser mit auf virtuelle Reisen nehmen. Von erfahrenen Weltenbummlern lassen wir uns an die Hand nehmen und in ihr besonderes Abenteuer entführen: Uns erwartet der Orient – Ist er so magisch wie in Tausendundeiner Nacht? Als Beifahrer erleben wir eine historische Motorradtour von Moskau nach Paris. In Afrika ist Großwildjagd nach Geschichten angesagt. Australien zeigt sich humoristisch. Und per Güterzug vagabundieren wir quer durch die USA. Spannende, witzige, tragische, haarsträubende, berührende Momente … Die folgenden LITERARISCHEN STREIFZÜGE führen uns in die weite Welt hinaus und bieten letztendlich Lesetipps für alle, die nach Reisen und Abenteuern lechzen! Auf geht’s … 

Allem voran erzähle ich zum Vorgeschmack von dem Traum aller Träume: Eine Reise nach Hawaii … Wirklich traumhaft?

Aloha!– Musste es ausgerechnet Hawaii sein? Ein Reiseziel so weit weg, dass wir eigentlich gleich bis Australien hätten fliegen können? Nach über dreißig Stunden Anreise erreichen wir bei Dunkelheit Maui. Im Landeanflug versuche ich Details der Insel auszumachen, um eine erste Orientierung zu bekommen. Aber alles, was man erkennen kann, sind entweder Lichterketten, Lichterflecken oder absolutes Schwarz. Die Ketten interpretiere ich als Straßen, die Flecken als Städte und das Schwarz als Meer. Und so scheint es, als würden die Straßen immer ins Meer hineinführen und die Städte wie Inseln darin schwimmen. Eine Orientierung oder gar Details bleiben mir verborgen. Diese Insel unter uns könnte ebenso Malta sein. Einerseits erleichtert, endlich Hawaii erreicht zu haben, andererseits angefressen von Müdigkeit und Erschöpfung packt mich eine Art Panik: Was, wenn hier gar nicht das Paradies ist? Der Flughafen von Kahului ist beschaulich und jetzt am Abend fast menschenleer. Da sind nur die Passagiere unseres Fliegers, die sich am Gepäckband tummeln. Die Halle ist nach außen hin geöffnet, und die schwüle Abendluft der Tropen heißt uns willkommen. Koffer einsammeln, Mietwagen abholen, und die letzte Etappe der Anreise startet: Nachtfahrt von Kahului Airport nach Wailea Elua Village. Mit letzter Kraft, so fühlt es sich an, erledigen wir unterwegs noch einen Einkauf im 24 Stunden geöffneten Supermarkt. Für das Frühstück am ersten richtigen Urlaubstag soll gesorgt sein! Dann endlich die Ankunft an dem Ort, wo Betten für uns bereit stehen und wir die nächsten siebzehn Tage zu Hause sein werden. Als wir uns aus dem Auto hieven, unser Gepäck sowie die Einkäufe zum Tragen verteilen, sehen wir kaum etwas. Nur ein spärliches Licht weist uns den Weg zum Eingang des Appartements. Ich blicke hinauf zum Himmel. Keine Ahnung, warum ich das tue. Vielleicht, weil ich an einem neuen Ort immer zuerst zum Himmel schaue? Der Anblick ist gigantisch: Die ganze Galaxie breitet sich leuchtend über uns aus, und die Milchstraße umschlingt uns mit ihrem dichten Schleier. Ich könnte niederknien vor Ergriffenheit – erspare aber mir und den anderen diesen Akt von Pathos. Skeptisch, weil unfassbar müde, unterziehe ich die luxuriöse Unterkunft einer ersten Prüfung: Ich wollte keinen Luxus. Ich wollte einfach dem Meer nah sein und möglichst mitten im tropischen Grün. Der Blick vom Balkon bleibt in der Dunkelheit stecken. Ich sehe nichts außer schwachen Konturen von benachbarten Dächern und das Licht von entfernt leuchtenden Straßenlaternen. Ich bin verzweifelt: Wir befinden uns mitten in einer gigantischen Wohnanlage und werden bei Tageslicht auf nichts anderes schauen, als auf Dächer, betonierte Wege und Parkplätze! Das Meer, der Pazifik, wird sich hinter Häusern verstecken, und das tropische Grün werde ich erst im Hinterland finden! – So denke ich an diesem Abend. Ich bin schrecklich müde und in diesem Moment völlig resigniert. Endlich im Bett falle ich in ungewohnt tiefen Schlaf. Etwas weckt mich. Langsam erfasst mich die Realität. Es ist hell. Und laut. Nicht unangenehm laut. Vögel schmettern ihre Rufe in den Morgen. Es ist nicht das niedliche Gezwitscher unserer bekannten Singvögel. Diese Vögel hauen ihre Rufe mit voller Wucht in den neuen Tag. Als ich die Augen öffne, kann ich kaum fassen, was sich meinem Blick offenbart: Sanftes Sonnenlicht liegt auf den Palmen, die ich vom Bett aus sehen kann. Und dahinter liegt der Stille Ozean! Leise, aber aufgeregt, krieche ich aus dem Bett. Zunächst möchte ich die anderen nicht wecken. Ich schleiche auf den Balkon: Da ist es – das Paradies! Unfassbar schön. So müde ich am dunklen Vorabend war, so wach bin ich nun an diesem strahlenden Morgen. Und ich könnte weinen vor Glück. Kitschig? Ja! Aber wahr. Aloha!

Nächste Woche jetten wir mit Nadine Pungs auf die Arabische Halbinsel und erleben Szenen ihrer wundersamen „Reise ins Übermorgenland“. Franziska Lachnit (2020)

Blauer Koffer

Der kleine blaue Koffer steht zerbeult und ein wenig verstaubt auf dem Schrank. Dieser Koffer begleitet einen nicht auf Reisen durch Länder und über Kontinente, sondern nimmt mich mit auf Reisen in die Vergangenheit. Ich hatte den kleinen Koffer bereits bevor ich in die Schule ging. Offenbar erschien mir das Zur-Schule-Gehen damals als sehr erstrebenswert, so dass ich zu Hause im Wohnzimmer auf dem Sofa sitzend Schule spielte. Ganz allein. Der Koffer diente als Schultasche. Darin bewahrte ich Stifte, Hefte und irgendwelche Bücher auf. Um das Schulerlebnis möglichst echt wirken zu lassen, sollte meine Mutter jeden Morgen einen geviertelten Apfel in Frischhaltefolie wickeln, den ich als „Pausenmahlzeit“ einpackte. Ich hatte beobachtet, dass meine ältere Freundin genauso einen Apfel immer mit zur Schule nahm; vielmehr brachte sie ihn wieder mit nach Hause und futterte ihn erst am Nachmittag. Ich weiß noch, wie stolz ich auf Köfferchen und Apfel war. In einer anderen Erinnerung hatte der kleine blaue Koffer vorübergehend den Besitzer gewechselt: Mein Bruder, gerade mal 2 Jahre alt, spazierte mit ihm in der Hand und einer Puppe – beinahe so groß wie er selbst – im Arm durch die Wohnung. Das schien ihm große Freude zu bereiten, denn diese Spaziergänge unternahm er häufig und stets mit strahlendem Lachen. Später diente der Koffer als Aufbewahrung für Puppenkleider und verschwand für viele Jahre im Schrank. Kürzlich entdeckte ich ihn wieder. Ab und zu hatte ich offenbar die Schätze, die ich darin verbarg, ausgetauscht oder ergänzt. Inzwischen beherbergt der kleine blaue Koffer nicht nur die letzten Erinnerungsstücke meiner Kindheit, sondern auch einige Teile Babyspielzeugs meiner – mittlerweile selbst erwachsenen – Kinder. Und jedes Mal, wenn ich nun einen Blick in den alten Koffer werfe, bekomme ich eine schöne Erinnerung geschenkt. Franziska Lachnit (2020)

Rückzug

Seltsame Zeit. Endlich lockt uns der Frühling mit einem Hauch von Wärme, dem bezaubernden Duft der Blüten und einer sprießenden Farbenpracht, aber wir verkriechen uns weiterhin in unseren Buden. Einerseits, weil’s ja so sein soll und andererseits auch aus Furcht. Wer wenig fürchtet oder gar nichts, wagt sich hinaus. Im Wald begegnet man seit einiger Zeit viel mehr Spaziergängern als in „Normalzeiten“. Es ist schön, dass jetzt viele Menschen Zeit und Lust haben, in die Natur hinauszuwandern! Man begegnet sich zwar auf räumlicher Distanz, aber mit einer zwischenmenschlichen Verbundenheit ganz besonders freundlicher Art.  Das gefällt mir. Mir gefällt auch, dass da, wo man sich sonst tummelt und drängelt, weniger los ist. Wir erfahren und lernen Rücksichtnahme – größtenteils. Asoziale Gestalten, die in der Schlange bei den Einkaufswagen ausrasten, gibt es dennoch; immerhin nur wenige – so mein Eindruck. Inzwischen erlebe ich zumeist das Lächeln der Solidarität. „Lass uns einen Bogen umeinander gehen, aber ich grüße Dich von ganzem Herzen!“ Das mag schmalzig rüberkommen … Aber im Gegenzug gibt es Zeitgenossen, die sich verhalten, als wären alle Mitmenschen Aussätzige, nur sie selbst so rein wie eine frisch gedruckte Zeitung. Diese Leute durchbohren einen mit mordwilligem Blick. Man selbst fragt sich: Wieviel mehr Abstand soll ich denn noch einhalten? Sollte ich besser keinen Blickkontakt haben? Und sagen sollte man sowieso nix. Unsere leidgeplagten Einzelhändler stehen nicht nur in so einem Fall vor Rätseln. Kopfschütteln ist dann angesagt. Und bestenfalls ein humorvolles Lächeln auf den Lippen. Liebe Leute, bleibt gesund, fröhlich und freundlich! Franziska Lachnit (2020)

Kinderbuch

Welches war dein schönstes Kinderbuch? Auf diese Frage kann sicher der ein oder andere sofort antworten. Ich musste erst darüber nachdenken. Meine Erinnerung kramte Bücher wie Oh, wie schön ist Panama, Krieg der Knöpfe oder Karlsson vom Dach hervor. Aber diese Bücher hatte ich tatsächlich erst als Erwachsener gelesen. Als Kind las ich eigentlich nicht. Mir wurde vorgelesen. Von Mama, die das gut konnte. Aber da sie sowieso schon so viel für uns Kinder tat, hatte sie wenig Zeit zum Vorlesen. Wenn Papa vorlas, war es eine Tortur. Nicht, dass er nicht lesen konnte! Immerhin war er Lehrer! Allerdings meinte er offenbar, dass die Texte, z.B. die Märchen der Gebrüder Grimm, nicht kindgerecht waren. Da kam wohl der Lehrer in ihm zum Durchbruch! Stets hielt er während des Vorlesens inne, um im Stillen die geschriebenen Sätze umzuformulieren. Dass diese dann nicht mehr so schön waren und wir Kinder uns in den Denkpausen beinahe zu Tode langweilten, bemerkte er nicht. Die Spannung war jedenfalls ein für alle Mal futsch. Mit Papa tobten wir also lieber vor dem Zubettgehen, als dass wir eine Geschichte von ihm hören wollten. Der beste Vorleser aller Zeiten (meiner Kindheit) war mein Opa. Ihm zu lauschen war ein köstliches Vergnügen! Köstlich auch, weil wir meistens von Oma eine Leckerei vorgesetzt bekamen. Wir saßen am Tisch im Esszimmer: Mein Bruder und ich nebeneinander und Opa uns gegenüber. Mein Bruder und ich mampften die zuckerig-saftigen Berliner von Oma. Opa hielt ein Buch in den Händen und las laut. Sein schlesischer Akzent sowie seine charakteristisch kraftvolle Stimme belebten jeden müden Text. Er las Die kleine Hexe, Das kleine Gespenst und … Der Räuber Hotzenplotz. DAS war mein schönstes Kinderbuch! Wenn Opa es las, erwachte jede Figur zum Leben. Der Geruch von Bratwurst und Sauerkraut verankerte sich in meiner Nase. Die Kaffeemühlen-Melodie Alles neu, macht der Mai leierte in meinen Ohren. Und eine hässliche Unke verwandelte sich vor meinen Augen zur schönen Fee Amaryllis. Wenn man mich nach meinem schönsten Kindheitserlebnis fragen würde, dann könnte ich jedenfalls sofort antworten. Franziska Lachnit (2020)

Trugbild

Am Morgen steht er früh auf. WC, Dusche, Rasur und Zähneputzen. Dann zieht er die Rüstung, seinen frisch gereinigten und gebügelten Anzug an. Noch schnell eine Tasse Kaffee. Und nun geht‘s in den alltäglichen Kampf. Der beginnt bereits auf dem Weg. Zwar noch müde, aber dennoch souverän lenkt er seinen mächtigen SUV durch den drängelnden City-Verkehr und über die verstopfte Autobahn.

„Mach Platz Du Schnecke in Deiner lahmen Karre!“ – „Mann, überhol‘ mich zügig oder lass es sein!“ So oder ähnlich verlaufen jeden Morgen seine hasserfüllten Selbstgespräche. Am Ziel angekommen, atmet er einmal tief durch, steigt aus, zupft die Manschetten zurecht und betritt das gigantische Glasgebäude, das wie geputztes Silber im Sonnenlicht glänzt. Mit scheinheiliger Freundlichkeit wird er von allen Seiten begrüßt. Ebenso grüßt er zurück.

In seinem Büro angekommen, stellt er fest, dass sich die Sekretärin krank gemeldet und dass ihn der Vorstand spontan zu einem Termin berufen hat. „Fängt ja gut an!“, denkt er und schließt die Tür, um einen Moment allein zu sein. „Mist! Keine Sekretärin – kein Kaffee.“ Also befördert er eine Flasche Brandy hervor. „Das brauche ich jetzt!“ – Das Meeting mit dem Vorstand verläuft erstaunlich gut: Kein Gezeter und keine utopischen Forderungen. Dennoch genehmigt er sich danach einen weiteren Schluck Brandy. „Ich muss jetzt runterkommen!“. Es steht noch ein Team-Meeting an, dem er gelassen entgegenblickt. „ Mein Team habe ich im Griff. Die spielen hervorragend in meiner Mannschaft!“ – „Darauf noch einen Schluck!“ Endlich macht er Feierabend und quetscht sich erneut durch den dichten Straßenverkehr. Zuhause wankt er sogleich zum Barschrank. Schnappt sich eine Flasche. Leicht torkelnd kickt er die Schranktür zu und begibt sich zum Sofa. Er lässt sich fallen. Hinein in bodenlose Freiheit und unendliche Weiten. Heraus aus seinem Leben. Franziska Lachnit (2020)

4 Stühle

Um den Esstisch herum stehen vier Stühle. Für jedes Familienmitglied gibt es einen Stuhl. Eigentlich herrscht keine Sitzordnung, aber im Laufe der Zeit siegte die Kraft der Gewohnheit, und jeder nimmt stets auf demselben Stuhl seinen Platz ein. Wenn man den Tisch verlässt, wird der Stuhl entweder mit Bedacht ganz an den Tisch herangeschoben oder man rückt den Stuhl beim Aufstehen unachtsam nach hinten und geht. Der Stuhl bleibt dann stehen. Henrick gefällt es, wenn der Stuhl einfach ohne Beachtung so bleibt, wie er gerade steht. Ihm gefällt es nicht, wenn der Stuhl akkurat an den Tisch geschoben wird. Am wenigsten gefällt ihm, wenn jemand um den Tisch herumschreitet, um alle Stühle bündig an den Tisch zu schieben. Er fühlt sich dann so, wie sich der Stuhl fühlen muss, nämlich gedrängt … in eine Position, die er als extrem beengend empfindet. Allerdings ist ihm auch bewusst, dass es geradezu krankhaft ist, wenn er um den Tisch läuft, um alle vier Stühle locker und, wie möglichst zufällig wirkend, vom Tisch wegzieht. Für ihn eigentlich befreiend.

Für die Stühle vielleicht auch!? – hätten sie Verstand oder eine Seele. Aber wie muss es auf jemanden wirken, der ihn plötzlich dabei ertappt, wie er einerseits berechnend, andererseits in gedankenverlorener Trance Stühle rückt? Gelegentlich denkt Henrick darüber nach, warum er das tut – Stühle verschieben. Und warum ist es ihm zuwider, wenn diese Stühle parallel und bündig zum Tisch stehen? Kann es sein, dass er die Stühle als Symbole der Familienmitglieder empfindet? Und was bedeutet dann der Tisch? – Der Esstisch ist wie eine Straßenkreuzung, ein Symbol für den Schnittpunkt des Familienlebens. Und er möchte nicht, dass sich die Familie in Reih-und-Glied aufstellt, sondern dass alle 4 ein lockeres und individuelles Zusammensein leben. Und dass jeder seinen Stuhl so stehen lässt, wie dieser gerade steht! Franziska Lachnit (2020)

Frühlingsgefühle

Er ist im Anmarsch, der Frühling! Zwar sehen wir noch keine Blätter sprießen oder Blüten blühen, aber die Herzen, die zwar immer noch in wollige Schals und Mäntel gepackt sind, beginnen zu hüpfen … Und so passierte neulich folgendes: Einkaufstour beim großen Supermarkt. Alles verläuft entspannt, denn die Feiertage sind schon lange überstanden, während das Wochenende noch nicht unmittelbar vor der Tür steht.

Ein Schwätzchen mit der Kassiererin und ein Plausch im Blumenladen. Dann schlendere ich zurück zu meinem Auto, um die überschaubare Beute da hinein zu verfrachten. Kaum habe ich die Kofferraumklappe geöffnet, grüßt mich eine freundliche Stimme: „Hallo!“ Ein junger Mann steuert auf mich zu, ein sympathisches Lächeln im schmalen Gesicht. Ich denke, dass er wahrscheinlich Münzen für den Einkaufswagen wechseln möchte oder eine Auskunft wünscht. „Hallo!“, erwidere ich gleichfalls freundlich und lächelnd. „Wie heißt Du?“, fragt er unvermittelt.

Jetzt bin ich ein wenig perplex. „Wieso? Warum willst Du das wissen?“ Ich argwöhne, dass er mich nun in ein Werbungsgespräch verwickeln will. „Ich heiße David.“, offenbart er und reicht mir strahlend seine Hand. Die Hand nehme ich und gestehe sogar meinen Namen. Aber irgendwie vermittelt er mir, dass ich ihn kennen bzw. wiedererkennen müsste. Das tue ich aber bei aller Grübelei nicht. Dann überreicht er mir einen kleinen, gelben Post-it-Zettel, gefaltet.

„Das ist für Dich.“ – „Was ist das? Und warum?“ – „Schau nach! Es ist einfach so.“ – Während ich den kleinen Zettel entfalte, geht der strahlende, bartstoppelige, Schal umschlungene, junge Mann davon … Ich lese: „Finde Dich süß – David – 01719988765“. Jetzt bin ich tatsächlich sprachlos. Brabbel etwas vor mich hin und weiß nicht, was ich denken soll. Dann ärgere ich mich, dass ich so spröde und argwöhnisch war. Ich sollte Hurra schreien, weil ich DAS erlebt habe! Ich fahre lauthals lachend nach Hause. Einfach so. Franziska Lachnit (2020)

Frei wie der Wind

Sowohl Sylvie als auch Max waren aus meinem Umfeld verschwunden, und ich entfernte mich sowieso zunehmend aus dem Studenten- und Universitätsleben. Neue Bekanntschaften kreuzten meinen Weg. Ich tauchte ab in die Welt der Unternehmer und Geschäftsleute. Fern der Wissenschaft ging es nun um Zielsetzungen, Strategien, Marketing, und vor allem ging es um Geld. Obwohl mich all das eigentlich nicht interessierte, geriet ich in den Sog, den diejenigen erzeugen, die hungrig nach Karriere streben.

Ich wurde zum Mitläufer, Trittbrettfahrer oder wie man das auch immer nennen mag. Jede Aufgabe wurde zur Herausforderung für mein Selbstwertgefühl, und jeder Mensch, der mich in dieser aalglatten Welt wahrnahm, bedeutete eine Bestätigung meines Selbst. Da war eine Ahnung von Unabhängigkeit … Heute hier, morgen dort … Reisen um den Globus im Perpetuum Mobile … Ich fühlte mich frei wie der Wind! – 

Heute ist einer der seltenen Tage, die ich in meiner Wohnung verbringe. (Ich habe tatsächlich einen festen Wohnsitz!) Ich lümmele lustlos, aber mit schlechtem Gewissen auf dem Sofa. Ich glotze sinnlos aus dem Fenster über die Dächer in die Landschaft: Rauch wirbelt weiß aus Schornsteinen, um sogleich waagerecht hinweggepustet zu werden.

Dann löst er sich abrupt auf. Die Straßenlaternen wanken beängstigend hin und her. Eine Flagge am Mast wird brutal gebeutelt. Erst jetzt nehme ich das Pfeifen und Klappern unter den Dachschindeln wahr. Ein Sturm tobt sich aus. Er treibt gnadenlos Wolkenfetzen über den schattierten Himmel. Das letzte Laub des vergangenen Herbstes wirbelt er wie buntes Konfetti durch die Luft … Frei wie der Wind!? – So fühlte ich. Aber bin ich auch stark und heftig wie ein Sturm? Kann ich wild sein? Kann ich tatsächlich frei sein? – Ich weiß es nun nicht mehr. Franziska Lachnit (2020)

Ohne Anfang kein Ende

Sylvie, Max und ich kehrten nach Hause zurück. Unser Wochenendtrip war ziemlich schräg. Was hatten wir erwartet? Dass sich eine intime Beziehung entwickelt? Zwischen wem genau? Ich wusste es nicht. Ich war verwirrt und auf eine unerklärliche Art enttäuscht. Meine Freundin ließ sich nichts anmerken und spielte weiterhin die zauberhafte Rolle des blondgelockten Engels. Ich vermutete inzwischen aber einen teuflischen Plan hinter ihrem „ach so hübschen!“ Antlitz.

Hatte ich Recht oder war ich auf dem Weg ein miesepetriger und argwöhnischer Mensch zu werden? Ich zog mich für eine Weile zurück. Zumindest von Sylvie. Mit Max nahm ich stattdessen mehr und mehr Kontakt auf. Und tatsächlich konnte man ganz gut mit ihm reden. Abende bei Bier in der Stammkneipe oder bei Wein in seiner Bude vergingen vergnüglich und wie im Fluge.

Die Gesprächsthemen wanderten von der Arbeit an der Universität über allgemeine Themen bis hin zu privaten Angelegenheiten. Sylvie hatte sich derweil wieder ein paar Mal mit ihrem Ex-Freund, dem smarten und wohlhabenden Marco getroffen und haderte mit sich und ihren Träumen von der Zukunft. Sie und ich sahen sich zu der Zeit nur zufällig – in der Bibliothek, dem Hörsaal oder der Mensa.

Das war seltsam. Ich glaube, wir alle fühlten uns damals seltsam. Keiner von uns wusste, was er eigentlich wollte. Oder was er auf keinen Fall wollte! Während Sylvie also wieder eine kurzzeitige und letztendlich unerfüllte Affäre mit Marco einging, lagen Max und ich Arm in Arm auf seinem Sofa. Im Sommer knutschten wir hingebungsvoll auf den Bänken an der Uferpromenade. Stets beteuerten wir dabei, dass es „nur so“ wäre! Dass wir auf keinen Fall „zusammen sein“ wollen! Ohne Anfang, kann es schließlich auch kein Ende geben! Das spürten wir. Und genauso war es gut. Franziska Lachnit (2020)

Trip zu Dritt

Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen? Meine Kommilitonin und beste Freundin – Sylvie – wollte über das Wochenende zum Windsurfing ans Meer fahren. Wahrscheinlich hatte sie mich gefragt, ob ich mitkommen möchte. „Ja!“ – Ich mochte. Dann hatten wir auch Max, den Doktoranden gefragt. Und „Ja!“ – Er kam ebenfalls gerne mit. Also tuckerten wir zu Dritt mit Sylvies alter Ente nach Westen, geradewegs aufs Meer zu. Der Himmel lag mit einem dünnen, grauen Schleier über uns. Sylvie stützte ihren linken Fuß auf das Armaturenbrett, hatte ihren Ellbogen aufs Knie gelegt und lenkte so lässig mit Links den Wagen. Ihre blonden Engelslocken wippten lustig im Luftzug des geklappten Fensters. Ich beobachtete sie genau. Max tat das wahrscheinlich auch. Aber wer weiß? Er saß auf der Rückbank und sprach kaum ein Wort. Am Meer wehte eine sanfte Brise, und der Himmel war immer noch grau schattiert. Keine Aussicht auf Sonnenschein. Als sich Sylvie mit Surfbrett und Segel auf den Weg machte, begleiteten wir sie. Obwohl mir ein Spaziergang lieber gewesen wäre, legte ich mich neben Max auf die Strandmatte. Wir beobachteten unsere hübsche Freundin, wie sie sich bei dem mäßigen Wind damit abkämpfte, das Segel aufrecht zu halten. Das gelang ihr immer nur für ein paar Sekunden, bevor das mächtige Teil auf die Wasseroberfläche klatschte, Sylvie mitriss und vom Brett zog. Es war langweilig und traurig, ihr bei dieser unglückseligen Unternehmung zuzusehen. Schließlich schaute ich weg und beobachtete einen anderen – ebenso hoffnungslosen – Versuch die kleinste Windböe zu nutzen: Farbig schwang sich ein Drache im steilen Flug hinauf, dann stürzte er wieder abwärts. Noch einmal hoch, dann wieder runter. Bis zum ruhigen Verweilen, worauf völlige Stille folgte. Auch Sylvie gab erschöpft auf, und wir kehrten zum Campingplatz zurück. Später lagen wir schweigend nebeneinander im Zelt. Was hatten wir uns nur dabei gedacht? Franziska Lachnit (2020)