Schäfchen zählen

Kämpft man sich bei Schneesturm oder Eisregen durch das winterliche Island, so kann man gar nicht glauben, dass hier beinahe eine halbe Million dieser puscheligen Nutztiere gehalten werden. Während die tapferen Islandpferde jedem Wetter trotzen, behütet man die Schäfchen des Winters lieber im Stall. Der Reisende erspäht also nur gelegentlich eine Handvoll Wollknäule. Sie kauern sich zusammen, im Windschatten bibbernd, mit eingeklemmten Schwänzchen und traurig-verzweifeltem Blick.

Und das, obwohl sie ihr dichtes Wollkleid tragen. Nun ja, es ist wasserabweisend und recht windbeständig, aber wer einmal im Winter in Island war, weiß warum auch Schafe frieren. Besucht man das Land im Herbst, so kann man beim Schäfchen zählen schon mal schläfrig werden: Auf gelben Weiden, rötlichen Wiesen, holperigen Lavafeldern stehen und liegen sie vereinzelt, dennoch zahlreich wie vom Himmel herabgestreute Wattebällchen. Dekorativ und niedlich. Aber erst im Sommer erkennt man, dass es in ganz Island von Schafen nur so wimmelt: Da, wo sonst nur ein Schaf ist, gibt es sie nun im Dreierpack.

Überall tummeln sie sich zu dritt – in Straßengräben, mitten auf der Straße, an steilen Berghängen, auf Wiesen sowieso und gelegentlich auch in selbstverschuldeter Gefangenschaft. So hatte sich einmal ein Schäfchen tollkühn oder lediglich verfressen dumm in ein abgezäuntes Gemüsefeld begeben. Der Rest der Truppe graste gelassen am Straßenrand und bemerkte nicht einmal, dass ihr Kumpel eingesperrt war. Nur mit menschlicher Hilfe konnte das verlorene Schaf befreit werden. Ebendieses Schaf schaffte es daraufhin erneut, sich ins Abenteuer zu stürzen: Laut blökend stand es früh am Morgen vor unserer Hütte. Wie war es auf das umzäunte Grundstück gekommen? Das wusste Schäfchen wohl auch nicht mehr. Wir öffneten ihm also das Gatter … Franziska Lachnit (2019)

Selbst schuld!

„Hotel Mama? Nicht mit mir!“ – Das dachte sie vor einigen Jahren. Und jetzt? Jetzt ist sie Köchin, Zimmermädchen, Putzfrau, Wäscherin, Autoverleih und Handwerker. Gelegentlich sogar Krankenschwester, Masseuse oder Psychotherapeutin. Also „all inclusive“ hier bei Mama! Wie es dazu kam? – Vor vielen Jahren, als die Kinder noch wirklich Kinder waren, hat sie natürlich auch all diese Tätigkeiten ausgeübt.

Damals war sie außerdem noch Chauffeur! Als die Kinder noch Kinder waren, erfüllte sie damit ihren Traumjob. Sie hat alles selbstverständlich und von ganzem Herzen getan. Wenn Sohn oder Tochter zuversichtlich fragten: „Mama, kannst Du das reparieren?“ – und das konnte sie in den meisten Fällen! – war sie mit Stolz erfüllt. Wenn es darum ging, ein Kind plus ein paar Freunde von A nach B zu chauffieren, war sie bereit – per Dienstplan mit den anderen Muttis: Mama-Sorglos-Bereitschaftsdienst!

Wenn die Kleinen krank waren, kümmerte sie sich liebevoll und brillierte mit einem bewundernswerten Repertoire von angelesenen medizinischen Kenntnissen. Das machen Mamas so! Der gesamte Haushalt steht unter ihrer Fittiche. Aber inzwischen sind die Kleinen nicht mehr klein, sondern volljährig. Und was hat sich damit geändert? Nichts!

Mama kocht, räumt auf, putzt, wäscht, verzichtet auf ihr Auto, und repariert nach wie vor alles. Gelegentlich steht sie mitfühlend am Krankenbett, holt Medikamente aus der Apotheke, bereitet Wadenwickel, kocht Tee. Sie streichelt Verspannungen weg und hört nächtelang zu, wenn die Seelen Qualen leiden. Ist das jetzt immer noch ihr Traumjob? Vielleicht … Aber einen Teil ihres Jobs hat sie im Laufe der Zeit offensichtlich übersehen: das Lehren, das Übergeben und das Loslassen. Selbst schuld, wenn sie sich jetzt nach wie vor für alles verantwortlich fühlt. Franziska Lachnit (2019)

Kampf den Hundehaufen

Schon lange hat mich nichts mehr dermaßen in Rage gebracht, wie die Ansammlung von Hundeexkrementen entlang unserer Hauswand sowie auf unserem Parkplatz. Anfangs war ich noch recht entspannt, denn schließlich war das Haus über Monate unbewohnt, lediglich tagsüber von Handwerkern bevölkert und letztendlich von Unkraut umwachsen. „Wenn wir erst hier wohnen, werden die Hundeherrchen und Hundefrauchen schon Rücksicht nehmen!“ – So dachte ich. Von wegen!

Eigentlich wurden die Haufen eher mehr und vor allem wurden sie größer. Ich rodete Unkraut, fegte Straßendreck und Laub. Spätestens jetzt sollten die Spaziergänger mit Hundebegleitung wahrnehmen, dass man hier wohnt und dass es sich hier nicht um eine öffentliche Latrine handelt. Dann kam der Tag, als ein Höllenhund (etwas anderes konnte es unmöglich gewesen sein) seine gigantische Hinterlassenschaft so platzierte, dass ich beim Einparken mitten hindurch fuhr.

Ich flippte aus. Ich hegte die fiesesten Gedanken, die ich je hatte und schmiedete angriffslustige Pläne, um jeden Hund – auch den liebsten und niedlichsten! – auf drastische Weise davon abzuhalten, jemals wieder sein Geschäft an meinem Haus zu verrichten. Ich hatte wirklich kreative Ideen! Doch dann überfiel mich Verständnis für die Hunde: Ein Hund muss, wenn er muss. Und dann macht er. Das kann man ihm nicht verübeln. Hundeherrchen und Hundefrauchen tragen die Verantwortung dafür, wohin der Haufen gesetzt und dass er dann BITTE entsorgt wird.

Nachdem ich den Megaschiss entfernt hatte, wollte ich ein deutliches Zeichen setzen: Ein Schild musste her! „Bösartig & sarkastisch!“ – Das war mein erster Impuls. Nachdem ich mich gedanklich dahingehend ausgetobt hatte, tendierte ich aber zu „freundlich & humorvoll“. Letztendlich stahl ich aus dem allwissenden Internet den netten Slogan „Schön, mit Dir Geschäfte zu machen!“ – und ergänzte: „Aber bitte nicht HIER!“ Wer hätte es gedacht? Seitdem ich diesen Spruch am Wegesrand platzierte, hat kein Hund mehr sein großes Geschäft an unserem Haus erledigt! Hurra! Franziska Lachnit (2019)

Gemälde: Anke Noreike

Wer hat Angst vorm Zahnarzt?

Ich hatte nie Angst vor dem Zahnarzt. Als Kind sowieso nicht, denn man durfte sich ja nach jedem Besuch ein kleines Gummitierchen aus einer Dose aussuchen, die wie eine Schatzkiste aus 1001 Nacht aussah. Und selbst als mir in meiner Jugend acht Zähne während einer einzigen Behandlung und ohne Betäubung aufgebohrt wurden, um das heimtückische Amalgam zu entfernen, damit man Abdrücke für acht großartige, goldene Inlays anfertigen konnte, flößte mir das noch immer keine Angst vor dem Zahnarztbesuch ein! Selbstverständlich wollte ich auch, dass meine Kinder niemals Angst vor dem Zahnarzt haben sollten.

Ich nahm sie von klein auf immer mit, wenn ich zur Vorsorgeuntersuchung ging. Meine Tochter durfte dabei sogar gelegentlich auf meinem Schoß sitzen. Aber den Mund mit ihren paar Zähnchen darin wollte sie damals noch nicht öffnen und biss fest auf ihre Lippen. Das änderte sich im Laufe der folgenden Jahre: Selbst als der Zahnarzt ihr klar machte, dass sie nun endlich ihren geliebten Schnuller abgeben musste, zeigte sie Unbefangenheit und Vertrauen. Eigentlich war es sogar von Anfang an Sympathie für den Herrn Doktor, der so einfühlsam mit ihr redete.

Mein Sohnemann hatte allerdings anfangs etwas andere Erfahrungen: Sobald er im Zahnarztstuhl Platz genommen und die Ärztin ihn freundlich begrüßt hatte, stellte er die Atmung ein. Sein Gesicht lief rot an … „Vergiss nicht zu atmen!“, sagte ich. Und da schaltete sich Frau Doktor sofort fantasievoll ein: „Stell Dir vor, du würdest durch deinen Bauchnabel einen Luftballon aufpusten … Welche Farbe hat der Ballon? … Wie groß ist er jetzt? … Dann lass ihn nun fliegen! Wohin fliegt er? … Über die Stadt, über Dein Haus, über den Rhein …?“ Damit war auch meinem Sohn die Anspannung genommen. WIR haben keine Angst vor dem Zahnarzt! Franziska Lachnit (2019)

Selhof

Über den Dächern – Ausgebrochen aus der Zange zwischen Grundschulgebäude und KASCH-Bunker einerseits sowie dem Tatütataa vom Roten Kreuz und dem Blablabla der Studenten andererseits, fühle ich mich nun befreit. Und das, obwohl sich in Selhof die Häuser unübersichtlich ineinander schmiegen und die engen Straßen beinahe ein wildes Labyrinth bilden. Traditionelle Fachwerkhäuser winden sich ums Eck und die schmalen Gassen fügen sich dem Verlauf der Häuserzeilen.

Jeder, der hier zum ersten Mal entlang geht, muss sich zwangsläufig verirren. Und niemand, der hier nur zufällig entlang spaziert, kann erahnen, welche Schätze in diesem Ortsteil verborgen sind. Zwar unternimmt man in der City mal spontan einen kurzen oder längeren Ausflug zum nächst gelegenen Lokal. Und beinahe alle Lokale sind dort nächstgelegen! In Selhof bleibt man lieber zu Hause. Es ist also ein bisschen abgelegen, aber so schön hier! Durch die geöffneten Fenster und über die Dachterrasse dringen fröhliche Kinder-Rufe: „Opa, komm‘ mal!“ – „Mama, darf ich zu den Kaninchen?“ – „Ich möchte Schoko-Kekse!“ – Und wenn ich einen Blick aus dem Fenster werfe oder auf der Terrasse stehe und lausche, erlebe ich, wie wohltuend lebendig meine Nachbarschaft ist. Nachts ist es ebenso wohltuend, nämlich still.

So still, dass ich endlich wieder schlafen kann! Wenn ich – egal zu welcher Tageszeit – auf der Terrasse sitze und über die Dächer schaue, sehe ich ALLES: Den blauen oder grauen Himmel, den mit weißen Wolken gesprenkelten Himmel oder den tief schwarzen und sternklaren Himmel. Ich blicke ihm mit weit aufgerissenen Augen entgegen. Und immer sind da die unzähligen Dächer mit zahlreichen Satellitenschüsseln sowie ein paar altertümlichen Antennen. Dort verbirgt sich Gemütlichkeit und Gemeinschaft. Und immer ist da auch der freie Blick in die Ferne … auf die Sieben Berge und die Phantasie von dem, was dahinter kommt … Franziska Lachnit (2019)

Froschkönig II

Auch diesmal kein Märchen! Wer erinnert sich an die kleine, blondgelockte Prinzessin, die einst zusammen mit ihrer Mutter den „Froschkönig“ rettete? … Ebendiese Prinzessin hatte mit dem damaligen Abenteuer eine tiefe Zuneigung zu Fröschen gefunden. Als sie eines Tages gemeinsam mit Mutter und Großmutter über den (Rhön)dörflichen Flohmarkt spaziert, begegnet ihr „Froschkönig der Zweite“. Rot und gummiglänzend strahlt er ihr von einem Verkaufstischchen entgegen.

Diesen Frosch wünscht sich die Kleine auf Anhieb, und zwar innig. Die Großmutter hatte der kleinen Prinzessin bereits einen Wunsch freigegeben: „Du darfst Dir etwas aussuchen!“ – „Oma, ich wünsche mir diesen roten Frosch!“ –Die Großmutter zögert. Die kleine Prinzessin schaut abwechselnd zum Gummifrosch und zur schweigenden Oma. Dann flüstert die Großmutter der Mutter ins Ohr: „ Diesen Frosch habe ich für den Flohmarkt gespendet!“ Die Mutter kann ein prustendes Kichern nicht unterdrücken und entgegnet: „Tja, dann kannst Du ihn nun offenbar zurückkaufen!“

Gesagt getan – die Oma kauft zähneknirschend ihren Plastikfrosch zurück und überreicht ihn der strahlenden Prinzessin. Und so lebt Froschkönig der Zweite – inzwischen nicht mehr rotglänzend, sondern grau verwittert – bereits seit vielen Jahren im Paradies einer Dachterrasse mit Sonne, Schatten, Wind und Regen sowie unter den liebevollen Blicken der – nun nicht mehr kleinen, aber immer noch bondgelockten – Prinzessin. Franziska Lachnit (2019)

Lost in space

Neu Delhi, Indira Gandhi International Airport. Es ist mitten in der Nacht, als wir dort landen. Am Gepäckband wartend erfahren wir per Lautsprecherdurchsage, dass unser Anschlussflug nach Jaipur ausfällt. „Willkommen in Indien!“ Auf keinen Fall wollen wir am Flughafen warten, bis wieder ein Flug nach Jaipur geht, und auch in Delhi selbst möchten wir nicht bleiben. Dies ist unsere zweite gemeinsame Indien- und unsere Hochzeitsreise.

Wir haben keine Zeit zu verplämpern. Also schnappen wir uns das nächste Taxi, um zum ca. 270 km entfernten Jaipur zu gelangen. Als der Taxifahrer unsere Taschen verlädt, ahnt er noch nichts Schlimmes. Erst als wir in dem klapperigen Tata Platz genommen haben und unser Ziel nennen, rutscht ihm das Herz in die Hose. Das lässt er sich jedoch kaum anmerken und wackelt freundlich mit dem Kopf: „No problem!“ Doch das erste Problem scheint für ihn bereits die Fahrt von Delhi weg statt nach Delhi hinein zu sein.

Mein Mann nennt ihm die Nummer der Straße, die in Richtung Süden führt. Soweit so gut! Der Fahrer manövriert sein Gefährt gekonnt um Schlaglöcher herum, die sich auf der teils unbefestigten Straße eins ans andere reihen. Dass hier Linksverkehr herrscht, merkt man nicht sofort: Man fährt da, wo kein Schlagloch ist: Links, rechts, links, in der Mitte, rechts usw. Gelegentlich nähert sich 1 Scheinwerferlicht. Ich denke: Ein Motorrad. Aber dann brettert ein fetter LKW an uns vorbei, dessen zweiter Scheinwerfer einfach defekt ist.

Solche Situationen gehen offenbar nicht immer gut aus: Plötzlich ist die Straße gesperrt: LKW-Unfall. Hier ist vorläufig kein Weiterkommen, und der Taxifahrer dreht sich verzweifelt zu uns um. Nun wird es richtig abenteuerlich. Der Fahrer hat keine Ahnung, wo wir sind und wie wir nach Jaipur kommen. An jeder Kreuzung wirft er einen fragenden Blick zu uns: „Which way?“ Mein Mann nimmt eine Miniaturkarte zur Hilfe, die auf der Rückseite unseres Reiseführers abgebildet ist.

Über Nebenstraßen und Holperpisten leitet er den Taxifahrer durch die Nacht. Viele Stunden später erreichen wir tatsächlich unser Ziel. Mein Mann und ich sind happy. Allerdings befürchte ich, dass der ahnungslose Taxifahrer nie mehr nach Delhi zurückgefunden hat und nun sein Dasein im fremden Jaipur fristen muss … Franziska Lachnit (2019)

Das Leben anderer

Wer kennt das nicht? Dieses Abtauchen in Filme, Serien oder Bücher. Man schaut einen Film, eine Serie oder liest ein Buch und befindet sich plötzlich ganz im Leben dieser Szenarien und Geschichten anderer. Und dann wünscht man sich dorthinein. Ähnlich geht es mir mit dem Buch, das ich letzte Woche gelesen habe. Die Handlung spielt in einem Küstenort Südafrikas, den ich einmal während einer Reise besuchte.

Somit war mir die Kulisse der Erzählung sehr präsent: Das Licht, die Farben, die Wärme, die Häuser und Straßen. Ich konnte das alles beim Lesen wirklich sehen, geradezu spüren. Und ich konnte den salzigen Duft des Meeres riechen. Ich begleitete die Romanfiguren quasi Seite an Seite. Das war ein angenehmes, heimeliges und auch erregendes Gefühl. Ich trage dieses Gefühl nun schon seit Tagen mit mir herum. Einerseits genieße ich das. Andererseits ruft es großes Fernweh in mir hervor.

Und dann frage ich mich zum wiederholten Male, ob ich hier und jetzt, wo ich tatsächlich bin, hingehöre … Nun mischt sich aber wie immer die Vernunft ein: „Versuche nicht in das Leben anderer zu schlüpfen! Du hast Dein Leben! Mit wem würdest Du wirklich tauschen wollen?“ Und dann antwortet die Erkenntnis wie immer: „Ich will nicht tauschen! Mit niemandem!“ – Daraufhin erwidert die Vernunft: „Dann hast Du alles richtig gemacht.

Werde jetzt endlich und verdammt nochmal glücklich mit Deiner Entscheidung und Deinem Leben!“ … Ja! Vernunft und Erkenntnis sind wirklich klug. Die Seele spielt leider nicht immer nach deren Regeln. Sie verliert sich gerne immer mal … und findet sich dann in dem Leben anderer wieder … Franziska Lachnit (2019)

Das verlorene Paradies

Bei den ersten warmen Sonnenstrahlen greife ich mein Notizbuch und vielleicht auch noch einen Roman von Paul Auster oder einen Erzählband von Alice Munro. Dann laufe ich schnellen Schrittes zum Rhein und auf die Insel. Ich freue mich auf ein ruhiges Plätzchen unter dem frisch sprießenden, hellgrünen Blätterdach. Und auf das erste Weizenbier dieses Frühjahrs. Mein Weg führt am ehemaligen Kaiser’s vorbei – immer noch leer.

Ich laufe die Bahnhofstraße entlang, wo wieder ein paar Bagger meinen Blick auf sich ziehen. Ich verharre für einen Augenblick, um die Baustelle genauer zu betrachten. In der Austraße freue ich mich über die neu gepflanzten Bäumchen, deren Vorgänger im letzten Jahr schmerzvoll den Bauarbeiten weichen mussten. Alexander-von-Humboldt-Straße, dann noch die Brücke über die B42. Endspurt über die alte Rheinbrücke auf die Insel … Schock: Wo ist der Biergarten? – Das Hochwasser kann ihn nicht verschluckt haben.

Es gab in diesem Jahr kein Hochwasser! Der „König von Bad Honnef“ ist also tatsächlich ins Exil auf den Drachenfels gezogen. Wer übernimmt aber nun die Regentschaft auf der Insel? Für mich bricht ein Mikrokosmos zusammen. Mein Paradies für Inspiration, Wohlfühlen und letztendlich das Freiluftbier ist verloren gegangen. Ich bleibe ratlos auf dem Kies stehen, auf dem noch vor ein paar Monaten Stühle und Tische standen.

Im November noch, weil das Wetter so toll war! Besetzt von Familien, Rentnern und Geschäftsleuten. Kinder sammelten Steinchen. Radfahrer legten hier eine Tour-Pause ein. Und Pärchen schauten versonnen und Händchen haltend dem Fließen des Rheins zu. Und nun? – Leere. Ich gehe sehr langsam. Schlendere traurig am Ufer entlang. Mein Hirn zermartert sich bei der Suche nach einer Alternative. Mein Herz hängt der Romantik vergangener Tage nach … die Insel … wir haben sie verloren. Franziska Lachnit (2019)

Tante Jordan

Sie selbst hatte sich den Namen „Tante Jordan“ gegeben. Jeder ihrer Nachbarn sollte sie so nennen. „Jordan“ war ihr Nachname; den Vornamen kannte niemand. Tante Jordan konnte manchmal ungewöhnlich nett sein und verschenkte dann Bonbons an die Kinder. Meistens jedoch war sie griesgrämig und meckerte, wenn man im Hof ein bisschen mit dem Ball kickte, Fangen spielte oder die Einfahrt nicht gekehrt wurde. Waren die Fensterläden ihrer Wohnung geschlossen, sollte man besser keinen Radau machen.

Denn dann wollte sie eindeutig ihre Ruhe haben. Tante Jordan lebte allein. Vielleicht steckte sie deshalb voller Gram. Wir wussten es nicht. Als sich in unserem Ortsteil der kleine Supermarkt auf Nimmer-Wiedersehen verabschiedete und Tante Jordan immer gebrechlicher wurde, hatte sie ein Problem: „Woher bekomme ich das, was ich täglich brauche?“ Sie konnte nicht weiter vor die Tür als ein paar Meter. Die Zeiten, dass der Milchmann bimmelnd die Straße entlangfuhr waren schon lange vorbei.

Tante Jordan hatte niemanden, der ihr half. Niemand interessierte sich für sie. Sie hatte sich die gesamte Nachbarschaft mit ihrem Gezeter und Getratsche verscherzt. Ein Taxi zum großen Supermarkt außerhalb der Stadt konnte sie sich nur gelegentlich leisten. Dann blieb aber nicht mehr viel Geld für die Einkäufe. Anfangs schlurfte Tante Jordan zwar jeden Tag zum Bäcker ums Eck, holte ein Brötchen und manchmal ein Stück Kuchen, aber davon allein kann kein Mensch leben.

Schließlich sah man sie nur noch selten, und dann erschien sie einem klapperig und verhärmt. Irgendwann begegnete man ihr gar nicht mehr. „Lebt sie eigentlich noch?“, fragte man sich im Stillen. Und eines Tages wurde gemunkelt, dass sie ins Pflegeheim gekommen sei. Offensichtlich war da doch jemand, der sich – zumindest ein wenig – um sie gekümmert hatte. Ein Jahr später erschien schon ihre Todesanzeige in der Tageszeitung. Niemand hatte sie vermisst. Franziska Lachnit (2019)