Trugbild

Am Morgen steht er früh auf. WC, Dusche, Rasur und Zähneputzen. Dann zieht er die Rüstung, seinen frisch gereinigten und gebügelten Anzug an. Noch schnell eine Tasse Kaffee. Und nun geht‘s in den alltäglichen Kampf. Der beginnt bereits auf dem Weg. Zwar noch müde, aber dennoch souverän lenkt er seinen mächtigen SUV durch den drängelnden City-Verkehr und über die verstopfte Autobahn.

„Mach Platz Du Schnecke in Deiner lahmen Karre!“ – „Mann, überhol‘ mich zügig oder lass es sein!“ So oder ähnlich verlaufen jeden Morgen seine hasserfüllten Selbstgespräche. Am Ziel angekommen, atmet er einmal tief durch, steigt aus, zupft die Manschetten zurecht und betritt das gigantische Glasgebäude, das wie geputztes Silber im Sonnenlicht glänzt. Mit scheinheiliger Freundlichkeit wird er von allen Seiten begrüßt. Ebenso grüßt er zurück.

In seinem Büro angekommen, stellt er fest, dass sich die Sekretärin krank gemeldet und dass ihn der Vorstand spontan zu einem Termin berufen hat. „Fängt ja gut an!“, denkt er und schließt die Tür, um einen Moment allein zu sein. „Mist! Keine Sekretärin – kein Kaffee.“ Also befördert er eine Flasche Brandy hervor. „Das brauche ich jetzt!“ – Das Meeting mit dem Vorstand verläuft erstaunlich gut: Kein Gezeter und keine utopischen Forderungen. Dennoch genehmigt er sich danach einen weiteren Schluck Brandy. „Ich muss jetzt runterkommen!“. Es steht noch ein Team-Meeting an, dem er gelassen entgegenblickt. „ Mein Team habe ich im Griff. Die spielen hervorragend in meiner Mannschaft!“ – „Darauf noch einen Schluck!“ Endlich macht er Feierabend und quetscht sich erneut durch den dichten Straßenverkehr. Zuhause wankt er sogleich zum Barschrank. Schnappt sich eine Flasche. Leicht torkelnd kickt er die Schranktür zu und begibt sich zum Sofa. Er lässt sich fallen. Hinein in bodenlose Freiheit und unendliche Weiten. Heraus aus seinem Leben. Franziska Lachnit (2020)

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