Frühjahrsputz

 Paula verdreht die Augen. Frühjahrsputz, muss das sein? Sie kann sich nicht mehr vorstellen, dass sie in ihrer Jugend Spaß daran hatte. Damals riss sie am ersten halbwegs warmen und sonnigen Tag die beiden großen Fenster ihres Zimmers auf, legte Pink Floyd’s The Wall auf den Plattenspieler und drehte die Lautstärke voll auf. Während Paula dann auf der Fensterbank balancierte und die Fenster polierte, schauten die Leute von der Straße zu ihr nach oben in den 5. Stock und schüttelten die Köpfe.

Als danach die blanken Fenster den Frühlingssonnenschein ungehindert ins Zimmer strahlen ließen, war Paula nicht mehr zu bremsen. Jedes Tinnef-Teilchen, jedes Buch und jeder Bilderrahmen wurde in die Hand genommen und vom winterlichen Staub befreit. Regalbretter und Schreibtisch wurden gewischt. Meistens nutze Paula diese Aktion auch zum Ausramschen und Umräumen. Ein paar Mülltüten wurden gefüllt, und hinterher stand nichts mehr dort, wo es zuvor gestanden hatte. Wenn sie schließlich mit dem Staubsauger durchs Zimmer gewirbelt war, überkam Paula das Gefühl, dass sie soeben höchstpersönlich den Winter vertrieben hatte. Das alles liegt aber lange zurück.

Heute hasst Paula die Putzerei. Ihre Argumente dagegen sind immer dieselben: Zeitverschwendung; der Dreck kommt eh wieder; anderes ist wichtiger … Lieber arrangiert sie sich mit ein paar Spinnen und toleriert die Staubschichten, als dass sie sich energisch und mit Wischmopp bewaffnet darauf stürzen würde. Außerdem hat Paula inzwischen zu viele Bücher, um jedes einzelne abzustauben. Nimmt sie eines aus dem Regal, so reicht es, einmal darüber zu pusten. Und was die Spinnen betrifft – die mag sie. Wenn Paula aber doch zufällig der Putzlappen in die Finger gerät, überfällt sie wieder ihr jugendlicher Putzeifer und kein Dreckskorn ist sicher vor ihr. Das kommt immer noch vor. Nur nicht unbedingt zum Frühjahr. Franziska Lachnit (2018)

Festessen

Letzten Sonntag feierten wir den 80. Geburtstag von Schwiegermutter II. Wir hatten in die Räumlichkeiten einer edlen Burg eingeladen und hofften auf ein erlesenes Menü. Die Feier war fröhlich und gelungen. Das Menü weder noch. Im vegetarischen Antipasti-Teller versteckten sich ein paar fleischige Überraschungen. Und die Steinpilzravioli, die alleine schon ein geschmackliches Ereignis sein könnten, waren unter deftigem Wintergemüse verschüttet. Eine undefinierbare und fade Sauce ummantelte das Einerlei.

Nun, gut – dem Fest hat das nicht geschadet – nur dem Geschmack. Heute musste ich plötzlich an das Restaurant denken, welches wir in unserer Kindheit geliebt haben. Es hieß Speisewagen. Der Name sagt alles: Öffnete man die Eingangstür, empfing einen ein schlauchförmiger Raum, an dessen Seiten hölzerne Eisenbahn-Bänke (2. Klasse!) standen. Immer zwei gegenüber und dazwischen ein Tisch.

Wie im Speisewagen eines alten Zuges. Die Dekoration des Lokals bestand aus vielerlei Eisenbahn-Accessoires: Uniformen, Mützen und Trillerpfeifen von Schaffnern und Lokführern, Bahnhofsschildern, Andreaskreuzen und ähnlichen Bahn-Relikten. Wenn das fertige Gericht aus der Durchreiche der Küche geschoben wurde, erklang ein Warnsignal, wie man es früher immer an den Bahnübergängen vernahm, wenn sich ein Zug näherte. Der Kellner kam, nahm das Gericht und servierte es.

Wir Kinder liebten das alles! Auch die Speisen und davon am meisten Wiener Schnitzel mit Fritten. Kulinarisch nicht gerade die höchste Kategorie, aber lecker. Leider war für dieses Restaurant eines Tages der Zug abgefahren. Ein Grieche trat an seine Stelle. Eigentlich auch gut. Wir waren älter und schätzen den Gratis-Ouzo, den man sowohl vor als auch nach dem Essen bekam. Und ein bisschen liegt mir jetzt noch der erstmalige Geschmack von Tsatsiki auf der Zunge. Franziska Lachnit (2018)

Beste Freundinnen

 „Ich will nicht in den neuen Kindergarten!“ zeterte sie und hockte sich störrisch auf den Fußboden. „Aber dort sind auch Birgit und Stefan!“ versuchte Mutter zu locken. „Wer sind denn Birgit und Stefan?“ fragte sie im Stillen und ließ sich von dieser Info nicht dazu überreden, ihren Protest einzustellen. Letztendlich erreichte Mutter dennoch ihr Ziel und die Kleine den Kindergarten. Dort lernte sie also Birgit und Stefan kennen.

Die Geschwister wohnten – welch eine Überraschung! – in derselben Straße wie sie selbst. Schnell wurde Birgit ihre beste Freundin. Die beiden Mädchen verbrachten möglichst viel Zeit gemeinsam. Wenn sie sich nicht treffen konnten, telefonierten sie. Sonntags lauerten sie in aller Frühe durch’s Fenster, ob die Freundin schon wach ist – in der Hoffnung, sich verabreden zu können.

Allerdings machten dann meistens die Eltern der einen oder der anderen einen Strich durch diese Rechnung. Wenn sie zusammen waren, vergeudeten sie keine Minute: Falls eine mal musste, ging die andere mit. Und auch am stillen Örtchen setzten sie ihre Gespräche über Barbie-Puppen, Schlagerstars, Jungen usw. fort. Sie spielten zu zweit Stadt-Land-Fluss bis zur Perfektion. Gemeinsam mit ihren Brüdern und anderen Jungs pirschten sie durch die nahe gelegene Wildnis, bauten dort Hütten, und bei den Spaßkämpfchen im großen Sandkasten schlugen sie sich ebenso tapfer wie alle Jungs der Straße.

Die Jahre vergingen. Aus den Spielen und Raufereien wurden Teekränzchen und Kuchenback-Sessions. Irgendwann kam  der Moment, als sie sich aus den Augen verloren. Doch eines Tages trafen sich ihre Mütter zufällig und erzählten von den Töchtern: Beide nun längst erwachsen, Studium abgeschlossen und im Job.  Als Mutter ihr von der Begegnung erzählte, entfachte sie wieder den Kontakt zur alten Freundin. Heute ist jedes Treffen der beiden so, als hätte man gestern noch auf’m Klo über Barbie-Puppen gequatscht. Franziska Lachnit (2018)

Sie holten sich die Welt ins Haus

Die Welt ist hier. „In einem Irgendwo, wo wir nicht sind und auch nicht sein müssen, ist nicht unsere Welt. Wir sind hier.“ –  Zuerst unbemerkt machte allerdings ein kleiner Teil der unbekannten Welt aus dem Irgendwo ein paar riesige Schritte und stand quasi plötzlich bei ihnen im Wohnzimmer. Zuerst natürlich noch nicht direkt darin, aber schon ganz nah – und bald tatsächlich mitten drin.

Die zunächst unbekannten Menschen waren freundlich, interessant und in gewisser Weise spannend. Sie brachten Essen, Sitten und Gedanken mit, die man nicht kannte, aber sehr gerne kennenlernen  wollte. Die Unbekannten brauchten Hilfe, die man ihnen sehr gerne geben wollte. Und so kam es, dass man sich eine neue Welt ins Haus holte: Kinder aus einer verlorenen Heimat tollen nun durch den Garten. Männer und Söhne kämpfen jetzt von hier aus um das Überleben ihrer Frauen und Mütter in jener hoffnungslosen Heimat.

Hier verschmilzt die nahe und vertraute Welt mit der fernen Welt des Ungekannten. Kinder, gezeugt irgendwo, werden hier geboren. Dann feiern wir ihren ersten Geburtstag – so wie wir es zuvor noch nie erlebt haben: Selig schlafende Babys, zufrieden schlummernde Greise, fein geschminkte Frauen mit bunten Kopftüchern, Männer mit dunklen Augen und schwarzem Haar. Daneben die Oma, der Onkel und der Nachbar.

Vertraute treffen auf Unbekannte. Einer neben dem anderen füllt das Haus und den Hof. Lachend und dem Augenblick glücklich ergeben. Ein Jahr später sind aus der einfachen Hilfsbereitschaft viele Freundschaften gewachsen. Mittlerweile kennt man einander, spricht offener, nimmt sich herzlich in die Arme und weiß um die Sorgen und Wünsche des Anderen – man tröstet und muntert sich gegenseitig auf. Das ist unsere Welt. Eigentlich klein, aber dennoch so unfassbar groß! Franziska Lachnit (2018)

Foto: Christian Adams

Tick

Jeder hat einen Tick! Oder? Der eine tritt niemals auf die Fugen zwischen den Pflastersteinen des Gehweges; der andere macht genau das Gegenteil. Manche müssen alle Dinge im rechten Winkel anordnen. Manche kontrollieren zweimal, ob sie ihr Auto wirklich verriegelt haben. Und ich hänge meine Wäsche immer mit farbig passenden Wäscheklammern auf. Unvorstellbar, das nicht zu tun! Selbst wenn ich unter Zeitdruck bin, bringe ich es nicht über mich, die Klammern einfach wahllos aus dem Körbchen zu nehmen. Wenn ich zwei schwarze Klammern für ein Paar schwarzer Socken brauche, suche ich solange, bis ich zwei gefunden habe.

Und wenn ich keine mehr finde, dann sortiere ich die bereits verwendeten Wäscheklammern nochmals um – meinem Tick zu liebe. Meine Familie macht sich darüber lustig. Und meine Tochter hat einmal versucht, mich zu therapieren:  Sie hängte die Wäsche ohne Klammern oder ganz bunt durcheinander auf die Leine. Wahrscheinlich hatte sie insgeheim lediglich gehofft, ich würde sie wegen dieses Chaos‘ vom Wäscheaufhängen entbinden. Tat ich natürlich nicht, allerdings ordnete ich nachträglich das Chaos auf dem Wäscheständer. – Woher habe ich bloß diesen Drang, meine Wäsche unbedingt mit farbig passenden Klammern auf die Leine zu hängen? Als Kind und Jugendliche half ich meiner Mutter immer beim Wäscheaufhängen.

Wir standen beide im feuchten und meistens kühlen Wäschekeller unseres Hochhauses und suchten nach freiem Platz auf den Wäscheleinen. Manchmal mussten wir die trockene Wäsche anderer Leute abhängen und gefaltet auf einen Tisch legen, oder meine Mutter hängte die Wäsche mit Platz sparenden Tricks auf. Ich reichte ihr ein Wäschestück und die Klammern dazu. Um es spannender zu machen, suchte ich stets farblich zum Wäschestück passende Klammern aus. So legte ich wahrscheinlich den Grundstein zu meinem Tick. Franziska Lachnit (2018)

Exil

„Nächstes Jahr bleibe ich an Karneval zu Hause!“ – dachte ich am Veilchendienstag, nachdem ich gerade mit Panik im Bauch und Schiss in der Hose eine Levada auf Madeira entlang gekrochen war. Rechts die Levada, links der steile Abhang in 50m Tiefe. Ich wusste, dass ich nicht schwindelfrei bin. Aber ich wusste nicht, dass mich dieser Weg an diesen Abhang führen würde.

Ein sonniger, frühlingshafter Vormittag hatte uns mit etwas Übermut, diesen unbekannten Wanderweg einschlagen lassen: durch einen tropisch anmutenden Wald mit plätschernden Wasserfällen, Riesenfarnen und duftendem Eukalyptus. Doch der Himmel vernebelte sich und schließlich liefen wir stundenlang durch Nieselregen. Der Pfad wurde zudem immer unwirtlicher: schmale, glitschige Passagen, enge Tunnel, ein Wasserfall unter dem wir hindurch huschen mussten und diese erschreckend steilen Abhänge.

So sieht also die Flucht vor Karneval aus! – Völlig durchnässt und ängstlich vor einer weiteren Herausforderung meiner (nicht vorhandenen) Schwindelfreiheit begann ich Karnevalslieder zu pfeifen … „Wenn ich im Zoch mitgehe, weiß ich immerhin, wo er endet und wie ich nach Hause komme!“ – dachte ich. „Wenn mir im Trubel der tollen Tage schwindelig wird, allenfalls vom letzten Bier, das wohl schlecht war.

Kein Grund zur Panik also! Und wenn ich klätschnass – vom Schneeregen oder Schunkeln – heimkehre, hänge ich die Klamotten über die Heizung und nehme ein heißes Bad. Aber endlich angekommen in der Hütte unseres Exils nach all den Strapazen, erwartet uns eine lauwarme Heizung, kaltes Wasser und feuchtes Kaminholz.

Ich hänge meine nasse Jeans über den Stuhl. Verzichte gleichmütig auf ein heißes Bad und widme mich ganz und gar der Herausforderung, mit feuchtem Holz ein Feuer zu entfachen. Mit Geduld, einem Haufen trockener Zweige, einigen Rindenschalen und vielen Grillanzündern lodert schließlich ein wärmendes und die Seele beruhigendes Feuer im Kamin. Jetzt noch ein kühles Bier! – Und nächstes Jahr bleibe ich an Karneval zu Hause! Franziska Lachnit (2018)

Schulweg

Auf dem Weg zur Schule mussten wir eine unübersichtliche Bundesstraße über- und eine Bahnlinie unterqueren. Das taten wir entweder brav auf einem Umweg über die nächste Kreuzung mit Fußgängerampel oder frech und abkürzend direkt über die Straße an der Bahnunterführung. Auf dem braven Weg kam man an einem Autohaus vorbei, in dessen Schaufenstern ich bereits in jungen Jahren mein Traumauto entdeckte: Alfa Romeo Spider – knallrot! Kostenpunkt 20.000,- DM. Das setzte mir damals in gewisser Hinsicht einen Anhaltspunkt für mein späteres Einkommen (vergeblich!).

Auf dem frechen Weg erlebten wir kleine Abenteuer, die damals wichtiger waren, als ein rotes Traumauto. Meistens befanden wir uns zu Dritt auf dem Schulweg – meine Klassenkameraden Stefan und Bob und ich. Und meistens quälten die Jungs mich mit kleinen Boshaftigkeiten: Sie rupften an meinen Zöpfen. Sie zerrten an meinem Schulranzen. Im Winter stibitzen sie mir die Mütze vom Kopf. Ich hasste sie dafür. (Und trug dann ausschließlich Kapuze!) Aber wenn ich nur mit einem von beiden unterwegs war, war alles anders: Dann fühlten wir uns verbündet.

Einmal ging ich zusammen mit Bob heimwärts auf dem Bahndamm. Ich hatte Angst, dass ein Zug kommen könnte. Bob legte sich auf die Schienen und hielt sein Ohr daran: „Nein. Es kommt kein Zug.“ Konnte ich ihm trauen? Oder wollte er sich als Held aufspielen? Zwar ging ich den Weg weiter mit ihm über die Gleise, aber so wachsam wie ein Indianer. Es kam tatsächlich kein Zug. Auch eine andere verbotene Abkürzung auf unserem Schulweg verhieß Spannung und Abenteuer.

Ein schmaler Trampelpfad führte durch ein kleines, verwegenes Wäldchen, in dem sich so manche Horrorfantasie entfaltete und uns gruselige Schauer über den Rücken jagte. Irgendwie hatte ich immer erwartet, dass dort eines Tages eine Leiche ausgegraben würde. Aber das geschah zum Glück bis heute nicht. Franziska Lachnit (2018)

Fünfte Jahreszeit

Das ist die schönste Zeit des Jahres! So empfanden wir als Kinder die Tage von Weiberfastnacht bis Aschermittwoch. Wie kleine Abenteuerferien fühlten sich die Karnevalstage an: Alle Kinder, die in unserem Hochhaus sowie unserer Straße wohnten – zwei Mädchen und ein Haufen Jungs – waren als Piraten verkleidet und enterten eine nachbarschaftliche Baustelle, um diese für sechs Tage zu unserem – Totenkopf beflaggten – Schiff zu machen. Der handbetriebene Betonmischer wurde zu unserem Steuerrad erkoren. Auf einer gemauerten Wand befand sich der Ausguck. Und das Kellerlabyrinth stellte das Unterdeck dar. Ein orangefarbenes Seidentuch spannte sich um meinen Kopf, die braunen Haare leckten keck hervor. An den Ohrläppchen blitzen kleine Kreolen. Ein weißes Satinhemd plusterte sich um meinen Oberkörper, und auf 7/8 geschnittene, zerfranste Hosen bekleideten meine Beine. Endlich konnte ich meinem inneren Trieb freien Lauf lassen und wurde zum Vollblut-Piraten. Wir segelten über stürmische Meere. Kämpften unerbittlich. Erbeuteten große Schätze. Viele Mutproben mussten wir überstehen. Und so vergingen die schönsten Tage des Jahres – viel zu schnell. Als wir älter wurden und diese Art Spiel für uns nicht mehr aktuell war, nutzen wir die Karnevalstage dennoch dafür, unseren Freiheitstrieb auszuleben: Ab Weiberfastnacht durften wir endlich anziehen, was WIR wollten! Das bedeutete für mich im Alter von vierzehn bis sechzehn, dass ich lange Röcke über langen Hosen, schlabberige Pullis von meinem Papa und Blumen in den langen Haaren trug. Endlich durfte ich Hippie sein! Das war die Zeit, in der wir uns zum ersten Mal in „Die Pinte“ wagen konnten – eine Studentenkneipe. An Karneval wurde nicht auf’s Alter geachtet, und wir erlebten ein neues Freiheitsgefühl. Auch diese Tage vergingen viel zu schnell. Et kütt halt wie et kütt, und et kütt – zum Glück- immer wieder! Franziska Lachnit (2018)

Heimkehr

Ich steige aus dem Zug. Nach zehn Jahren kehre ich in meine Heimatstadt zurück. Nervosität, Neugier und ein wenig Unsicherheit begleiten mich. Beinahe hätte ich aber den Ausstieg aus dem Zug verpasst. Lediglich ein unlesbares Schild steht dort am brüchigen, verunkrauteten Bahnsteig. „Es hat sich also nichts verändert“ – denke ich.

Aber dann überrascht mich ein schlimmes Szenario: Auf dem Weg zu meinem Elternhaus, laufe ich durch die Straßen, die ich aus meiner Kindheit kenne. Jetzt erscheinen sie mir unsagbar fremd: Unbewohnte, zum Teil fensterlose Häuser mit schäbiger Fassade säumen die Straßen. Nur wenige Fußgänger begegnen mir.

Keiner kommt mir bekannt vor. Ich erreiche die Innenstadt: Was ist denn hier passiert? – Ungefähr jedes zweite Ladenlokal steht leer. Die noch existierenden Geschäfte – Damenbekleidungsboutiquen, Floristik, Geschenkartikel und Wohnaccessoires lauern vergeblich auf Kundschaft.  Ich habe Hunger. Wo bekomme ich ein paar Lebensmittel? – Ich habe Durst. Wo bekomme ich ein Bier? Ich gehe zum Marktplatz, um in einem der Gasthäuser einzukehren. – Alles geschlossen?! Ich begebe mich zur Kirche.

Vielleicht, um meinen letzten Rest Glauben zu retten … Aber auch hier ist das Tor geschlossen. Ich laufe mit langsamen Schritten zu meinem Elternhaus. Eine beunruhigende Befürchtung schleicht sich heran: Auch dieses Haus könnte geschlossen und leer sein – oder von Unkraut überwuchert – oder bereits in Trümmern liegen. Ein paar Minuten später stehe ich vor dem Elternhaus. Einem Haus mit vielen Geschichten. Es ist noch da! – ein wenig verwittert, aber mit Fenstern, Türen und Menschen.

Es hat standgehalten. Ich trete ein. Das Treppenhaus empfängt mich mit dem gewohnten Geruch. Ich steige Stufe um Stufe in die erste Etage. Dort erwartet mich lächelnd und mit offenen Armen meine Mutter. Heimkehr! Franziska Lachnit (2018)

Am See

„Haus am See … Orangenbaumblätter auf dem Weg … ich hab zwanzig Kinder, meine Frau ist schön …“ singt Peter Fox – Ich swinge mit und wünsche mich in das Haus am See. – Dann waren wir da! Allerdings nicht mit zwanzig Kindern und nur in einer Wohnung. Und es gab keine Orangenbaumblätter, denn es war Winter. Aber am See! In den ersten Tagen sauste uns ein scharfer Wind um die Ohren, so dass der See einem wild gewordenen Ozean glich. Ein einsames Boot am Steg schwanke auf und ab – immer wieder kurz davor, sich loszureißen. Die Enten versteckten sich am Uferrand im Schilf, und auch kein anderer Vogel traute sich, in Erscheinung zu treten. Nach zwei Tagen flaute die Brise ab. Der See lag plötzlich blank und unschuldig da – so als wäre nichts gewesen. Das lockte endlich die Vögel aus ihrem Versteck: Enten, Schwäne, Haubentaucher … Die Enten ließen schon früh am Morgen ihren schnatternden Ruf ertönen. Der elegante Schwan – gründelnd Kopf und Hals ins Wasser getaucht – sah aus wie eine plumpe Boje aus weißem Schaumstoff. Die Haubentaucher verschwanden plötzlich und erschienen erst Minuten später wieder an der Wasseroberfläche. Jeden Tag und zu jeder Stunde bot uns der See ein anderes Bild: Morgens blinzelte die Sonne auf das gegenüberliegende Ufer und tauchte es in einen goldenen Schimmer – verheißungsvoll. Mittags wogte die Wasseroberfläche gemächlich und bleiern. Bei Sonnenuntergang wechselten Stimmung und Farben von Minute zu Minute: Romantisches Pastell.  Feuriges Gelb-Orange. Sanftmütiges Hellblau, das dann gemächlich in beruhigendes Dunkelblau hinüber glitt. Dann tauchte alles – der See, das Ufer, der Wald, der Himmel in tiefes Schwarz. Es zog einen in die Nacht, in den Schlaf … und erst, wenn man Stunden später nochmal erwachte, sah man die vielen Lichter am dunklen Himmel – Sterne, die uns immer begleiten. Franziska Lachnit (2018)